Das Ehepaar im Mittelpunkt von „Nemesis" wird beim Versuch eines Neubeginns von der Vergangenheit eingeholt. Auch der Zuschauer erlebt in gewisser Weise eine ähnliche Zeitreise, denn Nicole Moslehs Psychothriller wurde bereits 2006 gedreht und kommt nun ganze sechs Jahre später ins Kino. Die beiden Hauptdarsteller Ulrich Mühe und Susanne Lothar – auch privat ein Paar – sind inzwischen verstorben. Mühe erlag schon 2007 einer schweren Krankheit, kurz nachdem ihn seine Rolle als Überwachungsoffizier in dem oscargekrönten Stasi-Drama „Das Leben der Anderen" weltberühmt gemacht hatte. Im Juli 2012 starb auch seine Frau Susanne Lothar („Das weiße Band"). So ist „Nemesis" bei aller Spannung vor allem eine Reminiszenz an zwei großartige Schauspieler, die im Kino nur selten Rollen fanden, die ihrem Talent entsprachen. War Michael Hanekes „Funny Games" in dieser Hinsicht ideales Terrain für das Paar, wird die Nachwirkung des intensiven Zusammenspiels des Duos in „Nemesis" durch eine wenig plausible und allzu plakative Auflösung beeinträchtigt.
Im Souterrain des Zweithauses von Robert (Ulrich Mühe) und Claire (Susanne Lothar) in der Toskana wird Claires Schwester Nina (Janina Sachau) mit einem kräftigen Schlag auf den Hinterkopf brutal ermordet. In der Folge dieses Ereignisses wollen Robert und Claire das Haus verkaufen und sich trennen, jedoch nicht ohne eine letzte Party zu geben. Am Tag danach stellen sich unangenehme Erinnerungen an den unaufgeklärten Mord ein: die grausige Entdeckung der Leiche, das Misstrauen der Polizei gegenüber Robert, der einst mit Nina liiert war, bevor er mit Claire zusammenkam, ein rätselhafter Telefonanruf Ninas bei Claire kurz vor ihrem Tod. Claire, die wegen ihrer zerrütteten Nerven Medikamente nimmt, entwickelt zunehmend Argwohn gegenüber Robert, der sich seltsam benimmt, als er erfährt, dass der neue Besitzer das Haus abreißen will.
Haneke und Hitchcock sind die beiden Pole, zwischen denen sich „Nemesis" bewegt: In den Filmen des österreichischen Regisseurs Michael Haneke geht es oft um die Ohnmacht, der sich scheinbar hochkultivierte Menschen angesichts von körperlichen Gebrechen (wie zuletzt in „Liebe") oder Gewalt („Caché") gegenüber sehen. Gewalt kann dabei von außen auf sie eindringen oder aber aus ihnen selbst hervorbrechen. Als Vertreter der vielzitierten „Toskana-Fraktion" gehören auch Robert und Claire zu dieser Personengruppe. Ähnlich wie in Hanekes „Das weiße Band" beendet auch in „Nemesis" ein Verbrechen die Idylle einer scheinbar unkomplizierten Beziehung, die längst von Lügen durchdrungen ist. Dabei lässt die Situation hier nur einen Schluss zu: einer der beiden Protagonisten muss der Täter sein - mit dieser quälenden Ungewissheit erinnert „Nemesis" an Klassiker von Alfred Hitchcock wie „Rebecca", „Verdacht" oder „Im Schatten des Zweifels". Der Wechsel zwischen der in Farbe gedrehten Gegenwart und den in grau gehaltenen Rückblenden in die Vergangenheit wird durch Ivana Davidovás pointierten Schnitt in ein assoziatives Krimipuzzle verwandelt, bei dem der Zuschauer der Detektiv ist und das einer Verbeugung vor dem Großmeister des Psychothrillers gleichkommt.
Noch in einem Interview Anfang 2011 schwärmte Susanne Lothar von der Improvisationsarbeit während der nur knapp zweiwöchigen Dreharbeiten an „Nemesis". In der Tat tobt sich das Schauspielerpaar hier darstellerisch aus, Mühe und Lothar umkreisen, belauern, belügen und betrügen sich gegenseitig und versuchen den anderen in die Falle zu locken. Dabei ist der lange Tisch in der Wohnküche oft Zentrum des mimischen Kräftemessens: Unzählige Gläser Rotwein trinkt Robert dort, während Claire meist heimlich trinkt, als müsste sie sich Mut machen. Trotz dieses packenden Schauspielduells endet der kompakte Film nach nur 80 Minuten enttäuschend, letztlich zerfällt er in – gleichwohl aufwühlende – Einzelszenen und fügt sich nicht zu einer überzeugenden Einheit. Schon der Titel „Nemesis", der auf die Göttin des gerechten Zorns der griechischen Mythologie anspielt, trägt die Ambition eines donnernden Schlusspunkts in sich, dem die offene Struktur der Erzählung zuwiderläuft. Die aberwitzige finale Wendung, die ebenso unlogisch wie aufgesetzt wirkt, ist wie eine kalte Dusche, die das vorangegangene, wunderbar ambivalente Spiel mit Zweifeln und Verdächtigungen barsch auslöscht.
Fazit: Mit „Nemesis" findet ein im Ansatz hervorragend konstruierter und grandios gespielter Psychothriller nach langen Jahren endlich den Weg ins Kino. Das misslungene Finale zerstört die Vielschichtigkeit des Films zwar abrupt, aber als Testament der darstellerischen Kunst von Susanne Lothar und Ulrich Mühe ist „Nemesis" dennoch sehenswert.