Was verbirgt sich wohl hinter einem Film, der die nach Robert Brown benannte Molekularbewegung von kleinen Teilchen in Gasen und Flüssigkeiten im Namen trägt? Mit Physik im klassischen Sinne hat der Film von Nanouk Leopold („Wolfsbergen", „Guernsey") auf den ersten Blick jedenfalls wenig zu tun. Denn in „Brownian Movement" sind es nicht die temperaturabhängigen Zufallsbewegungen von Teilchen, sondern die Handlungen von Menschen, für die sich die niederländische Regisseurin interessiert. Diese erscheinen bei näherem Hinsehen ähnlich unerklärlich, wie das Verhalten von Atomen und Molekülen in der Natur. Was tatsächlich in den Figuren vorgeht, bleibt im Verborgenen.
Charlotte (Sandra Hüller) führt ein glückliches Familienleben. Sie ist verheiratet mit einem Mann (Dragan Bakema), den sie liebt und Mutter eines Sohnes (Ryan Brodie). Auch über den Job kann sie nicht klagen. Sie verdient gut als Ärztin in einer Brüsseler Klinik. Doch schlummert in Charlotte ein Bedürfnis, das durch ihr normales Leben nicht befriedigt wird. In einer Wohnung, die sie extra angemietet hat, trifft sie sich mit ihren Patienten und schläft mit ihnen. Ihre Wahl fällt vor allem auf die Ausgefallenen, die Alten, Dicken, stark Behaarten... Was genau Charlotte darin sucht, kann sie selbst nicht beschreiben. Auch die Therapie, die sie beginnt, als ihr Mann ihre Affären entdeckt, vermag nicht zu helfen. Trotz aller Probleme wollen beide ihre Beziehung retten.
Wir sehen andere Menschen, wir sehen, wie sie sich bewegen und Handlungen vollführen. Wir unterstellen ihren Handlungen Beweggründe. Dadurch werden sie uns verständlich und wir können Empathie entwickeln. Was aber ist, wenn Menschen Dinge tun, die wir nicht mehr verstehen? Dann werden uns diese Menschen fremd. Je unverständlicher ihre Handlungen ausarten, desto weniger können wir sie als Personen akzeptieren. Menschen, deren Verhalten wir gar nicht mehr nachvollziehen können, werden zu Unmenschen. „Brownian Movement" ist ein Film über das Gefühl, wenn uns die Illusion des Verstehens genommen wird.
Die Geschichte konfrontiert den Zuschauer mit einer Welt, die sich voreiligen Erklärungsversuchen entzieht. Aus der Ferne mag man Charlotte einfach als „pervers" oder „verrückt" bezeichnen. Das wären aber lediglich leicht durchschaubare Versuche, sich nicht weiter mit dem Thema beschäftigen zu müssen. Der Film fragt genau hier nach, und zwar indem er zeigt, ohne zu erklären. Er stellt viele Fragen und er beantwortet sie, indem er Antworten schuldig bleibt. Das klingt paradox, ist aber der einzige Weg, wie er seinem Thema gerecht werden kann. Im Dienste der gleichen Sache steht auch die Inszenierung: „Brownian Movement" ist bedächtig, ja – mitunter fast unerträglich langsam. Diese formale Strenge ist kein Selbstzweck, sondern steht vielmehr im Zeichen der Präzision, die nötig ist, um das Thema der Geschichte herauszuarbeiten. Obwohl der Film immer wieder Alltagsszenen in aller Ausführlichkeit zelebriert, ist keine davon beliebig oder unwichtig. Wir befinden uns in Nanouk Leopolds ethologischem Labor.
Dass „Brownian Movement" mit seinem kopflastigen Ansatz nicht nur intellektuell herausfordert, sondern auch den Zuschauer emotional affiziert, liegt an seiner grandiosen Hauptdarstellerin Sandra Hüller („Requiem", „Über uns das All"). Hüller braucht keine Verkleidung, um ihre Figuren ganz und gar unverwechselbar zu machen. Wir verstehen ihren Charakter ebenso wenig wie ihr Mann, aber wir begreifen in Ansätzen, dass Charlotte sich ebenfalls fremd bleibt. Es wird deutlich: Der Mensch hat keinen privilegierten Zugang zu seiner eigenen Innenwelt. Nur manchmal scheint sich der Hauch einer Ahnung in einem flüchtigen Lächeln zu zeigen, aber vielleicht ist das – wie so vieles, das wir in anderen Menschen zu erkennen glauben – eine Illusion. Neben Hüller macht auch der vor allem aus dem niederländischen TV bekannte Dragan Bakema seine Sache gut. Besonders in der zweiten Filmhälfte gewinnt seine Figur immer mehr Substanz und zeigt schließlich die Richtung auf, in die Nanouk Leopold zu zielen scheint.
Am Ende weist ihr Film doch über die durch den Titel suggerierte physikalische Lesart seines Inhalts hinaus: „Brownian Movement" ist ein Film über das Verdrängte, das Unsichtbare. Aber anstatt, dass die Figuren zu Unmenschen, zu Nicht-Personen werden, liefert er ein subtiles, aber nicht weniger eindrucksvolles Plädoyer dafür, dass wir auch ohne die Illusion von gegenseitigem Verstehen ein gutes, von Respekt und Vertrauen geprägtes Leben führen können.