Mit Asghar Farhadis Drama "Nader and Simin - A Separation", dem iranischen Beitrag zum Berlinale-Wettbewerb 2011, stand der aussichtsreichste Anwärter auf den Goldenen Bären schnell fest. Und das nicht nur, weil der politische Kontext der diesjährigen Filmfestspiele darauf hinweist - der iranische Filmemacher Jafar Panahi war ins Visier des Mullah-Regimes geraten und unter Hausarrest gestellt worden; sein vakanter Jury-Sitz hat nun eine ähnliche Symbolwirkung wie der leere Platz des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo in Stockholm 2010. Nein, „Nader and Simin - A Separation" ist schlicht und ergreifend der beste Film, den der Wettbewerb bisher zu bieten hatte. Farhadi erzählt die Geschichte zweier Familien, die über eine Sequenz tragischer Unfälle in eine erbitterte Fehde geraten. Politik spielt dabei zwar eine Rolle, doch steht hier nicht das Regime am Pranger. Vielmehr lädt Farhadis Film zur Auseinandersetzung mit Recht und Moral ein; zwei Begriffe, deren Zusammenhang im einen Augenblick glasklar wirkt, die sich aber keine Minute später wieder wie magnetische Pole abzustoßen scheinen. Weit über das iranische Setting hinaus bedeutsam, enorm differenziert und gänzlich unprätentiös: „Nader and Simin - A Separation" ist grandioses Kino und kassierte den Goldenen Bären am Ende zurecht.
Simin (Leila Hatami) und Nader (Peyman Moaadi) möchten mit ihrer Tochter Termeh (Sarina Farhadi) den Iran verlassen. Alles ist vorbereitet, doch dann bekommt Nader Skrupel: Sein Vater (Ali-Asghar Shahbazi) leidet an Alzheimer und er möchte ihn nicht allein zurücklassen. Die enttäuschte Simin reicht die Scheidung ein und verlässt die Familie. Der nunmehr alleinerziehende Nader stellt die schwangere Razieh (Sareh Bayat) zur Betreuung des kranken Alten ein. Als er seinen Vater eines Tages allein und ans Bett gefesselt in der Wohnung vorfindet, kommt es zum Eklat zwischen ihm, der Pflegerin und deren Gatten Hodjat (Shahab Hosseini) - mit dramatischen Konsequenzen, auch für Simin, die es nicht übers Herz gebracht hat, ohne ihre Tochter abzureisen.
"Nader and Simin - A Separation" stellt einen Drahtseilakt dar, den Asghar Farhadi mühelos meistert. Einerseits ist sein Film ein kraftvolles Familiendrama, das auch ohne aufdringliche Inszenierung und ohne emotionale Aufladung - auf Musikuntermalung wurde taktvoll verzichtet - involviert und berührt. Andererseits skizziert Farhadi ohne distanziert-analytischen Gestus ein Problem, mit dem jede Zivilisation seit je her zu kämpfen hat: Wo greifen Recht und Moral ineinander, wo blockieren sie sich? Der titelgebende Bruch vollzieht sich nicht nur in einer Ehe, sondern auch zwischen diesen Begriffen. Zwei Mal nimmt Nader direkten Bezug auf Farhadis Thema. Einmal zu Beginn des Films, voller Überzeugung: „Was falsch ist, ist falsch, unabhängig davon, was irgendjemand dazu meint!" Seine hilflose Antithese zum Schluss schließt die Klammer: „Das Gesetz schert sich nicht um unseren Einzelfall - am Ende bekomme ich bloß Recht oder Unrecht."
Recht und Moral erscheinen hier wie zwei Schachbretter, deren Schwarz-Weiß-Aufteilung nicht deckungsgleich ist. Jede der Figuren hat gute Gründe, sich standfest auf lichtem Weiß zu wähnen. Nader leidet an seiner Sysiphos-Aufgabe, Arbeit, Tochter und Krankenpflege auf einmal managen zu müssen. Sein Opponent Hodjat ist arbeitslos, depressiv und verzweifelt über eine Fehlgeburt seiner Frau. Je nach Perspektive tragen alle Beteiligten Schuld an den Ereignissen, inklusive des Kindstodes - oder niemand. Wem die Justiz in Gestalt eines strikt nach Kodex agierenden Richters (Babak Karimi) Unrecht gibt, der beruft sich auf die Moral, auf Ehre und Anstand. Wer ins moralische Abseits gerät, beruft sich auf geltendes Recht. Eine subtile Pointe: Nur wer mit dem Rücken zur Wand steht, beschwört den Willen Allahs als letztgültiges Entscheidungskriterium.
Zahllose, oft vollkommen triviale Notlügen, mit denen die unter dem Druck sozialer Konventionen ächzenden Figuren versuchen, ihr Ansehen zu wahren, verkomplizieren den Fall zum babylonischen Wirrwarr. Und sei es bloß, dass Razieh einen geplatzten Müllsack und ein verschmutztes Treppenhaus auf die eigene Kappe nimmt, um ihre achtlose Tochter Somajeyh (Kimia Hosseini) vor nachbarlicher Schelte zu schützen. Wer hat wen wann geschubst, wer den kranken Vater zu welchem Zeitpunkt unbeaufsichtigt gelassen, und weswegen? Eindeutige Sympathiezuschreibungen werden vermieden, weil Farhadi seine Figuren nie in Klischees abdriften lässt. Nader ist ein liebevoller Vater, aber beileibe kein Heiliger; Hodjat ist aufbrausend, aber kein Schläger.
Die von der ersten bis zur letzten Minute überzeugenden Darsteller tun ihr übriges, um Farhadis anspruchsvollen Ansatz aufgehen zu lassen. Und die Politik? Die ganze Tragödie nimmt immerhin ihren Anfang, als Nader und Simin von ihrem Vorhaben absehen, das Land zu verlassen. Doch weder hält der Staat sie zurück, noch bleibt irgendjemand aus patriotischen Gründen vor Ort. Dass es sich hier um eine ganz normale Familie handelt, betont Farhadi mit der letzten, starken Einstellung: Nader und Simin stehen sich auf dem Flur des Gerichts gegenüber, getrennt durch eine Leinwandbreite und eine Fensterscheibe; wartend auf eine Verfügung – so wie all die anderen Menschen im Hintergrund. Der Goldene Bär für "Nader and Simin - A Separation" war reine Formsache.