Über uns der Himmel, dahinter das All. Und unter uns? Natürlich die Hölle. Der Mensch lebt in der Region dazwischen, wo das idealisierte Gute und Böse aufeinanderprallen. In dieser irdischen, bodenständigen Sphäre spielt Jan Schomburgs Drama „Über uns das All". Von dem esoterisch klingenden Titel braucht sich niemand abschrecken zu lassen – Schomburgs Geschichte ist denkbar einfach und ganz und gar von dieser Welt: Eine Frau verliert ihren Partner und kommt daraufhin mit einem neuen Mann zusammen. Trotzdem wimmelt der Film nur so von kleineren und größeren Überraschungen, von subtilen Zwischentönen. Abgesehen vom etwas zu versöhnlichen Schlussakkord ist das großartig erdacht und gemacht. „Über uns das All" ist ein absoluter Geheimtipp!
Martha (Sandra Hüller) und ihr Mann Paul (Felix Knopp) planen, von Deutschland nach Marseille zu ziehen. Paul hat gutes Feedback für seine Doktorarbeit bekommen, sein Professor (Martin Reinke) sie sogar als wissenschaftlichen Meilenstein bezeichnet. Der Karriere im Ausland steht nichts im Wege. Doch kurz vor der Abreise wirkt Paul nachdenklich und abwesend. Martha misst dem wenig Bedeutung bei und schiebt es auf die bevorstehenden Veränderungen. Der Tag der Abreise naht; Paul fährt vor, Martha will ihm ein paar Tage später folgen. Dann steht plötzlich die Polizei vor der Tür und informiert sie darüber, dass sich ihr Mann in Marseille das Leben genommen haben soll. Paul soll tot sein? Das kann und will Martha nicht glauben. Erst nach und nach beginnt sie die Realität zu akzeptieren. Realität? Welche Realität?
„Über uns das All" ist ein Film, der nachwirkt. Das ist vor allem den großartigen Darstellern zu verdanken – voran Sandra Hüller („Requiem"). Hüller, die auf den Berliner Filmfestspielen 2011 gleich in zwei Filmen präsent war – außer in Schomburgs Werk war sie auch noch im ebenfalls eindrucksvollen „Brownian Movement" von Nanouk Leopold zu sehen –, zeigt eine ganze Bandbreite an Gefühlen, die ihre Figur nach der Selbstmordnachricht durchmacht. Das reicht von anfänglicher Verleugnung und Verzweiflung über unterkühlten Aktivismus und Hysterie bis hin zu einer seltsamen Form von Verdrängung. Hüller hat maßgeblichen Anteil daran, dass die mysteriöse Geschichte so gut funktioniert und liefert darüber hinaus ein beeindruckendes Charakterporträt einer Frau in einer Ausnahmesituation. Mit ihrer Figur spielt sie durch, was Robert Musil als Möglichkeitssinn bezeichnet hat: Martha gibt die Idee, dass alles auch anders sein könnte, nie auf.
Sehr eindrucksvoll zeigt sich die Kollision von unverwirklichten Möglichkeiten und dem faktisch Gegebenen als Martha auf Alexander (Georg Friedrich) trifft. Ganz unversehens findet sich dieser in der Welt ihrer Wünsche wieder. An dieser Stelle muss Hüllers kongenial mitziehenden Schauspielkollegen ein Kompliment gemacht werden: Georg Friedrich („Nordwand") ist als Person, die die von Paul hinterlassene Leere füllt, eine interessante, komplexe Figur und darüber hinaus für die wenigen heiteren Momente des Films verantwortlich. Der aus dem TV bekannte Felix Knopp hingegen liefert ein pointiertes, wenngleich sehr trauriges Bild des depressiven Paul.
Ein weiterer Grund, der „Über uns das All" so packend macht, ist Schomburgs Talent als Geschichtenerzähler und Regisseur. Sein konzentrierter Stil, der dem Kino der Berliner Schule nicht unähnlich ist, zeichnet sich vor allem durch sein Gespür für Leerstellen aus. So werden etwa die Hintergründe von Pauls Selbstmord und seinem Doppelleben kaum erläutert. Die Doktorarbeit war abgeschrieben, der Professor, der die Arbeit angeblich gelobt hat, kannte Paul kaum. Martha scheint einem Hochstapler aufgesessen zu sein, was sie allerdings erst nach seinem Tod und auch nur in Ansätzen begreift.
Doch das sind nicht die einzigen Unschärfen und Geheimnisse, die der Film bereithält. Durch die vielen Momente des Nichtwissens kommen sich Publikum und Figuren sehr nah – beide sind ähnlichen Unsicherheiten ausgeliefert. „Über uns das All" wird so zu einem Film, der, wenngleich er eine konkrete Geschichte erzählt, einen Weg in den Möglichkeitsraum jenseits der sichtbaren, empirischen Welt weist. „Über uns das All" handelt nicht nur von dem, was ist, sondern stets auch von dem, was sein könnte. Vielleicht meint der Titel so auch dieses: Hölle und Himmelreich sind nur weitere mögliche Welten – wie all das über uns, im All. Doch wir sind hier und müssen unseren Frieden schließen mit der möglichen Welt, die wir jetzt erleben. Selbst wenn diese Welt noch so viel Unglück enthält, ist sie immerhin – das wusste schon Woody Allen – der einzige Ort, wo man ein gutes Steak bekommt.