Hinter dem französischen Drama „Americano" steckt ein komplexes Geflecht familiärer und cineastischer Querbezüge: Der Schauspieler und Regisseur Mathieu Demy, der hier sein Langfilmdebüt vorlegt, ist der Sohn der beiden Filmemacher Agnès Varda („Vogelfrei") und Jacques Demy („Die Regenschirme von Cherbourg"). Chiara Mastroianni, die die Freundin von Demys Figur Martin spielt, ist die Tochter von Catherine Deneuve und Marcello Mastroianni. Und in die Rolle der Amerikanerin Linda, die diesen Martin ein kurzes Stück auf seiner Reise begleitet, ist Geraldine Chaplin geschlüpft, deren Vater man wohl nicht vorzustellen braucht. Demys verträumte Mischung aus Familiendrama, Selbstfindungsreise und rauschhaftem Trip ist voll von Anspielungen auf diese verwandtschaftlichen wie filmgeschichtlichen Bezüge, trotzdem ist „Americano" mit seiner behutsamen Konfliktschilderung und der sensiblen Zeichnung seiner sehnsüchtigen Hauptfigur ein eigenständiges Werk, das sich auch ohne Vorkenntnisse problemlos erschließt.
Obgleich Martin (Mathieu Demy) ein schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter hatte, macht er sich gleich nach ihrem Tod von Frankreich nach Kalifornien auf, um dort Abschied zu nehmen und ausstehenden Papierkram zu regeln. Am Flughafen begrüßt ihn Linda (Geraldine Chaplin), die der schwerkranken Frau in ihren letzten Jahren zur Seite stand. Deshalb kann sie auch nur schwer verstehen, warum es ausgerechnet eine junge Mexikanerin sein soll, der das Apartment der Verstorbenen zufällt. Doch diese Lola (Salma Hayek), die Martins Mutter unter ihre Fittiche genommen hatte, um sie vor dem Moloch L.A. zu beschützen, dieser Mensch, der ihr scheinbar mehr bedeutet hat als Linda oder Martin, ist verschwunden. So bricht Martin auf, um Lola, seine Vergangenheit und sich selbst zu finden – bald führt die Suche ihn ins „Americano", eine Strip-Bar in Tijuana...
Mathieu Demy („Tomboy") spielt Martin als einen Suchenden mit stoischem Gesicht und leicht abwesendem Blick. Durchbrochen wird sein Trott nur von Anflügen leichter Irritation bezüglich seiner Freundin Claire (Chiara Mastroianni), seinem Vater, seiner Mutter. Was sich unter dieser Oberfläche verbirgt, die lange verborgenen Fragen, die ihn nun aufwühlen – dies wird nicht schlagartig mit einer spektakulären Überraschung enthüllt, sondern vielmehr ergibt sich die Auflösung logisch aus einer Reise der kleinen und größeren Entdeckungen. Ein Teil davon sind Martins Kindheitserinnerungen an die Zeit mit seiner Mutter. Demy hat hier Szenen aus Agnès Vardas Film „Menschengesichter" von 1981 eingefügt – mit ihm selbst als Kind. Geometrisch strenge, schlichte Kompositionen dominieren diese Aufnahmen, die aus heutiger Sicht seltsam kalt und einsamkeitsfördernd wirken mögen.
Einmal verfummelt sich der Junge mit dem Schlüssel an der Tür. Die Mutter ist nicht da, der Kleine muss sich um Häuserecken drücken, bis ihm jemand hilft. Aus solchen Details entwickelte Varda ein Mosaik vieler kleiner Fremdheitserfahrungen. Demys Los Angeles ist nun nicht minder grau und wenig anheimelnd. Nur einmal, bei einer Fahrt in den Trailer-Park auf der Suche nach Lola, glitzert die Nacht voll falschem Schein und Großstadtversprechen. Lola – ein Name, der in der Filmgeschichte einschlägig vorbelastet ist, nicht nur durch „Der Blaue Engel", durch Rainer Werner Fassbinder und Tom Tykwer, sondern auch durch Jacques Demy und dessen gleichnamiges Debüt.
Es gibt viele Verweise zu entdecken in „Americano", das ist reizvoll für Cinephile, aber angewiesen ist man auf die Anspielungen und Zitate nicht, um dem Film folgen zu können. Martins Reise in die verruchte Unterwelt von Tijuana, in die Schatten des „Americano", ins Separee mit einer Lola, die immerhin von Salma Hayek („From Dusk Till Dawn") gespielt wird, das ist spannend und bedeutsam genug. Martin atmet das Unwirkliche dieser Parallelwelt, in der man für Nähe zu bezahlen hat und die doch so viele Menschen derart packt, dass sie nicht mehr loslassen können, mit vollen Zügen ein. Die Hure mit dem guten Herzen und der sehnsüchtige Freier, der sie aus diesem Alltag herausholen möchte – das mögen keine sonderlich originellen Figurenentwürfe sein. Doch wie das Grelle, Pralle und Sinnliche Martin erst den Kopf vernebelt und ihn dann befreit, das inszeniert Demy so zwingend und anrührend, dass Klischees hier nicht negativ ins Gewicht fallen, sondern zu schlichten kleinen Wahrheiten werden.
Fazit: „Americano" steckt voller Echos aus der Filmgeschichte, aber er ist vor allem eine sensible Studie in Einsamkeit und Sehnsucht, deren Protagonist im Verlauf einer fesselnd inszenierten Reise und in Bildern voll schönem Schein zu sich selbst kommt.