Mein Konto
    Livid - Das Blut der Ballerinas
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Livid - Das Blut der Ballerinas
    Von Robert Cherkowski

    Das Horror-Kino der Nullerjahre, es gehört den Franzosen. Während man sich in Übersee damit begnügte, ein überflüssiges Klassiker-Remake nach dem anderen zu produzieren oder sich in fragwürdigen Franchises wie der „Saw"-Reihe zu ergehen, wurde in Frankreich gewaltig am Rad gedreht: Mit „High Tension" hatte der spätere Hollywood-Exilant Alexandre Aja 2003 einen wüsten Paukenschlag abgeliefert und es folgte eine Welle wütender, Genregrenzen überschreitender Schocker. Während sich manche dieser knüppelharten Werke nicht gerade in das Gedächtnis des Publikums einbrannten, waren auch echte Horrorperlen dabei: Pascal Laugier zeigte in „Martyrs" eine spirituelle Reise in Form einer unterkühlten Folterstudie; Julien Maury und Alexandre Bustillo wiederum schufen mit ihrem extrem spannenden Home-Invasion-Slasher „Inside" eine regelrechte Orgie der Grausamkeiten, die sich schwer verdauen und unmöglich vergessen ließ. Schnell war klar, dass man von diesen skrupellosen Knaben noch hören würde. Für kurze Zeit war das Gespann Maury und Bustillo sogar im Gespräch für die Regie des zur Zeit auf Eis liegenden „Hellraiser"-Remakes. In weiser Voraussicht blieben die beiden Franzosen jedoch zunächst in Europa, nun folgt endlich ihr Zweitling „Livid". Die Erwartungen an den Fantasy-Horror-Mix waren sehr hoch, vielleicht zu hoch. Denn „Livid" begeistert mit einer wahrlich infernalischen Klimax, aber für diese Steigerung lässt sich das Regie-Duo viel Zeit.

    Das Leben in den kargen Küstenregionen Frankreichs ist eigentlich schon trist genug, doch für die junge Lucy (Chloé Coulloud) ist es doppelt schwer. Vor knapp acht Monaten hat sich ihre Mutter (Béatrice Dalle) das Leben genommen. Tagsüber ackert sich die schwermütige Lucy als Praktikantin bei der Altenpflege wund, auch das Herrenhaus der einstigen Ballett-Lehrerin Jessel (Marie-Claude Pietragalla) steht auf ihrem Dienstplan. Einst war Jessel eine strenge Zuchtmeisterin, doch nun siecht sie in einem komatösen Schlaf vor sich hin, den sie ohne ihre zischelnde Beatmungsmaschine nicht überleben würde. Lucy erfährt, dass Jessel keine Angehörigen mehr hat und ihre Tochter Anna bereits vor Jahrzehnten gestorben ist. Irgendwo im Haus soll die alte Lady auch noch einen Tresor mit Reichtümern versteckt haben. Als ihr Weltüberdruss eines Nachts zu groß wird, beschließen Lucy, ihr Freund William (Félix Moati) und der gemeinsame Kumpel Ben (Jérémy Kapone), den Schatz ausfindig zu machen. Bald merken sie jedoch, dass dunkle Mächte im Haus ihr Unwesen treiben. Nicht alle werden das Licht des nächsten Morgens erblicken...

    Wer bei Filmen gerne nach dem Wie, Weshalb, Weswegen und Warum fragt, ist mit „Livid" schlecht beraten. Tatsächlich hat das Drehbuch Löcher, die sich auch mit größtem Wohlwollen nicht übersehen lassen. Wenn das Regie-Duo nach der stimmungsvollen Schilderung des melancholischen Alltags von Antiheldin Lucy zu Beginn plötzlich ein Klischee nach dem anderen aus der Mottenkiste des Haunted-House-Horrors hervorkramt, ist erst einmal Chaos angesagt. Was hat es mit der Leiche am Strand auf sich, die noch vor der Titeleinblendung auftaucht und danach nie wieder erwähnt wird? Was sollen die Kindermorde, die die Kleinstadt in Atem halten und die nichts mit der eigentlichen Handlung zu tun haben? Und wie kann Lucy nur so sagenhaft doof sein, zusammen mit zwei waschechten Trotteln ins Herrenhaus der alten Jessel einzubrechen, wo doch klar sein dürfte, auf wen der Verdacht da wohl fallen würde? Das alles ergibt wenig Sinn.

    Auch visuell bleibt der Film lange Zeit erst einmal ziemlich unspektakulär. Man mag sich an die unschöne Digital-Optik gewöhnen; in den nächtlichen Szenen im Spuk-Gemäuer hätte man sich gerade nach dem stilistisch so selbstbewussten „Inside" jedoch trotzdem etwas mehr gestalterische Finesse gewünscht. Stattdessen gibt es die immer gleichen Halbtotalen und eine ziellos-verwackelte Kameraführung. Nicht einmal die obligatorischen Splatter- und Gore-Momente – eigentlich eine Spezialität von Maury und Bustillo –, in denen das Kanonenfutter hier dezimiert wird, sind sonderlich packend inszeniert. Die Abgänge zweier Nebenfiguren passieren einfach und verpuffen ohne besonderen Schauwert oder adrenalinsteigernde Wirkung. Aber es ist keineswegs so, dass der Film bis dahin keine Qualitäten hätte: Hauptdarstellerin Chloé Coulloud („Gainsbourg") ist ausgesprochen charismatisch, die Sets sind detailverliebt gestaltet (so kommt etwa eine Puppenstube mit unheimlichen Tierköpfen vor) und der Soundtrack ist stimmungsvoll-gruselig.

    Nach der Hälfte der Spielzeit scheint festzustehen, dass Maury und Bustillo hier nicht an „Inside" anschließen können. Doch dann nimmt „Livid" eine Wendung, die den ganzen Film in ein neues Licht taucht und die das Publikum knallhart spalten wird: Mit Anlauf durchbricht der mediokre Horror die letzten Logik-Barrieren und entwickelt sich zu einem assoziativen Rausch aus Genre-Versatzstücken, zu einem surrealen Bilderbogen voller schwarzer Magie und blutroter Traurigkeit, der so nicht zu erwarten war. Spät bekommt „Livid" dabei auch einen eigenen, grellen Märchenlook. Mit einem Mal werden wunderbar bunte Rückblenden aus dem Leben der unheimlichen Ballett-Lehrerin und ihrer blutdürstigen Tochter Anna ausgepackt. Dazu haben die Autoren Körpertausch-Themen ins Skript geflochten und so wird ein düster-romantisches Finale vorbereitet, das sich mit dem Kopf kaum verstehen, sehr wohl aber mit dem Bauch erfühlen lässt.

    Moderner Splatterpunk trifft auf altmodischen Gothic-Horror – und die Mischung geht besonders mit Blick auf das letzte Drittel des Films auf! In den besten Momenten kommen sogar Erinnerungen an Dario Argentos „Suspiria" (zu dem es auch eine wunderbare Anspielung für Fans gibt) oder an Lucio Fulcis „Das Haus an der Friedhofmauer" auf. Auch die Fetisch-Aspekte von Clive Barkers „Hellraiser"-Cenobiten finden Verwendung. Für Horror-Fans entwickelt sich „Livid" zunehmend zu einem schönen Wimmelbuch voller Reminiszenzen und Hommagen – wobei sich nebenbei immer wieder ganz verschiedene Lesarten für den Film anbieten, etwa als Requiem auf die Kindheit. Immerhin war auch „Inside" schon ein tieftrauriger Film, in dem es keineswegs ausschließlich um Blut und Gedärm ging. Der mutige Haken, der hier in Richtung Fantasy geschlagen wird, wird nicht jeden Freund des prinzipiell schmerzhaft realistisch gehaltenen neuen Frankreich-Horrors überzeugen. In jedem Fall aber hebt er das verquaste Ganze trotz einer weniger überzeugenden ersten Hälfte klar über das Mittelmaß hinaus.

    Fazit: Mit „Livid" haben sich Julien Maury und Alexandre Bustillo von der Erwartungshaltung freigespielt, die neuen Gore-Freaks vom Dienst zu sein. Beherzt setzen sie auf eine ungewohnte und ungewöhnliche Mischung aus moderner Horror-Unterhaltung und düster-romantischer Fantasy der härteren Gangart. Gelungen ist ihnen der riskante Balance-Akt jedoch erst im späteren Filmverlauf – dann aber wirklich!

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top