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    Rubber
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Rubber
    Von Stefan Geisler

    „No Reason" wäre ein passender Alternativtitel für Quentin Dupieux dritten Film „Rubber" gewesen, den er als Hommage an die Sinnlosigkeit der Dinge, des Seins und des Lebens an sich versteht. Dupieux ist bislang vor allem in der Elektroszene bekannt; begonnen hat der gebürtige Franzose als DJ unter seinem Alter Ego Mr. Oizo, wobei viele ihn insbesondere mit seiner kleinen gelben Stoffpuppe „Flat Eric" in Verbindung bringen. Nach „Nonfilm" und „Steak" ist „Rubber" Dupieuxs erster Film, dem internationale Aufmerksamkeit zu Teil wurde: Am 15. Mai 2010 kam es zur Uraufführung bei den Filmfestspielen in Cannes, von welchen aus der mordlüsterne Reifen dann seinen Siegeszug quer durch die europäischen Fantasy-Filmfestivals antrat. Auch wenn die Geschichte des schwarzen Stück Gummis mit der eigensinnigen Mischung aus Horror- und Komödienelementen nicht jedes Kritikerherz erobern konnte, so wurde doch viel über ihn, seinen Regisseur und den hervorragenden Soundtrack gesprochen, an den der musikalische Regisseur natürlich eigenständig Hand anlegte. Gute Voraussetzungen also, um bald wieder etwas von einem der unkonventionellsten Filmemacher Frankreichs zu hören – diesmal eben nicht im Club, sondern im Kino.

    Mitten in der Wüste erwacht ein Reifen zum Leben. Robert, so der Name des Pneus, muss sich erst einmal in der für ihn ungewohnten Umgebung zurechtfinden. Er entdeckt sein Ich und andere Lebewesen – alles scheint fremd und neuartig. Robert besitzt die Fähigkeit, mittels Telekinese Dinge explodieren zu lassen. Sprengt er auf diese Weise anfangs noch Dosen und Plastikflaschen in die Luft, folgen seinem Zerstörungstrieb bald auch kleinere und größere Tiere, bis Robert zum ersten Mal auf einen Menschen trifft. All diese Merkwürdigkeiten geschehen unter den wachsamen Augen einer Zuschauergruppe, die aus sicherer Entfernung die Ereignisse beobachtet und kommentiert...

    Die Odyssee eines mordenden Reifens zu erzählen, das klingt in der Tat erst einmal ziemlich sinnfrei. Doch allein der erste Monolog des Films, vorgetragen von einem Polizisten, der aus einem Kofferraum steigt, zeigt auf, dass der Reifen-Schabernack nicht grundloser, willkürlicher ist, als beispielsweise der braune Hautton E.T.s. Oder die Tatsache, dass es weniger absurd erscheint, einer Puppe („Chucky - Die Mörderpuppe") oder einem Auto („Christine") beim fröhlichen Morden zuzusehen, als einem Reifen. Dabei ist Robert eigentlich so menschlich: Er erlebt eine Geburt, erste unsichere Gehversuche und die Entwicklung eines Selbstbewusstseins. Dieser Reifen liebt es, nach vollbrachtem Tagewerk vor dem Fernseher zu gammeln, ist jähzornig wie ein kleines Kind und scheint oftmals, so bizarr es klingen mag, menschlicher als seine Schauspielkollegen. Deplatziert wirkt der ungewöhnliche Protagonist dennoch, fast wie der Hundejunge (Tony Maxwell) in den Musikvideos zu Daft Punks „Da Funk" und „Fresh".

    „Rubber" verortet sich zwischen Brecht'schem Theater und Musikvideoästhetik. Dieser Stil wird durch den treibenden Soundtrack von Mr. Oizo und Gaspard Augé, einem Mitglied des französischen Elektronik-Duos „Justice", verstärkt und suggeriert Emotionen, wo Roberts eingeschränkte Mimik nicht aussagekräftig genug ist. Zeitweilig fühlt man sich so fast in einen klassischen Stummfilm versetzt. Eine der einprägsamsten Szenen ist die Entdeckung einer Reifenverbrennungsanlage, untermalt wird diese – für Robert einem Genozid gleichkommende Gräueltat - mit einem Pan-Flöten-Marsch. Die Aussagekraft und der Kampfeswille dieser kurzen Melodie schlägt in diesem Moment jedes gesprochene Wort. Zu einer Identifikationsfigur kann und soll das schwarze Stück Gummi dennoch nicht werden. So verweist Dupieux, ganz im Sinne Brechts, immer wieder auf die Fiktionalität des Geschehens und führt aus ebendiesem Grund bereits zu Beginn des Films eine Gruppe von Zuschauern ein, die das Treiben des Reifens einem Kinopublikum gleich aus sicherer Entfernung beobachten.

    Jedoch verschwimmen dann und wann die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, so zum Beispiel, wenn einer der passiven Zuschauer zur Interaktion mit Robert gezwungen wird, Sekunden zuvor aber noch Existenz als filmeigene Figur abstreitet und auf seine Beobachterrolle verweist. Wie Bertolt Brecht einst proklamiert hat: „Das Theater darf nicht danach beurteilt werden, ob es die Gewohnheiten seines Publikums befriedigt, sondern danach, ob es sie zu ändern vermag." „Rubber" ist weder Komödie noch Horrorfilm, auch wenn er aus vermarkungstechnischen Gründen oftmals als solcher angepriesen wurde, der Film ist vielmehr ein cineastisches Experiment. Gerade deswegen ist der Film auch keine leichte Kost und phasenweise etwas sperrig, wird aber durch den Humor immer wieder aufgelockert, besonders durch Roberts menschliche Eigenarten. Wer sich auf Dupieuxs Gedankenspiele zur filmischen Realität und der der Rolle des Zuschauers einlässt, der bekommt mit „Rubber" einen kleinen, mutigen Film, eine echte Rarität geboten.

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