Dass viele Verfolgungsjagden speziell im Thriller, ebenso aber ganz allgemein im Kino in Großstädten stattfinden, hat einen guten Grund. Um ahnlich fetzige Actionsequenzen auf freiem Felde zu inszenieren, braucht es schon Ausnahmetalente wie Alfred Hitchcock. Verwinkelte Straßen und enge Passagen mit ihren vielen Ecken und Verstecken eignen sich doch wesentlich besser dafür, spannende Rennen um Zeit oder Leben zu choreographieren. Paris ist als historisch gewachsenes, äußerst verdichtetes Labyrinth völlig überfüllter Behausungen wie kaum eine andere Stadt Europas als Schauplatz für derartige Szenarien geeignet. Und Fred Cavayé, der mit „Ohne Schuld" bereits gezeigt hat, dass er sich aufs Thriller-Handwerk versteht, hat in diese Stadt für „Point Blank" eine atemberaubende Jagd hineingeschrieben.
Samuel (Gilles Lellouche) ist Krankenpfleger auf einer Intensivstation, seine Freundin Nadia (Elena Anaya) hochschwanger. Eines Nachts kann Samuel den Mord an einem Patienten (Roschdy Zem) durch einen Unbekannten gerade noch verhindern. Aber schon am nächsten Tag wird Nadia vor seinen Augen entführt. Um sie freizubekommen, soll Samuel einen Kranken, den die Polizei als Hugo Sartet sucht, aus der Klinik herausschmuggeln. Der Auftrag verläuft jedoch keineswegs so glatt wie erhofft, so dass Samuel und Sartet schließlich als Schicksalsbrüder durch die Stadt hetzen, ohne sich auch nur im mindesten ausstehen zu können – stets auf der Flucht vor der Polizei und den Leuten, die Sartet an den Kragen wollen...
Schon die ersten Szenen des Films verdeutlichen, dass auch Sartet nur ein Bauer und möglicherweise bald ein Bauernopfer in einem wesentlich größeren Spiel ist – wer hier die Guten und wer die Bösen sind, das beantworten die Autoren Cavayé und Guillaume Lemans jedoch ebenso bald. Die Erzähl- und Spannungsstruktur von „Point Blank" ist dicht, die Regie konzentriert – da ist kein Gramm Fett zu viel dran, jeder Schauplatz bekommt genau die Leinwandzeit, die Cavayé braucht, um das Potential der einzelnen Episoden auszureizen. In der Topologie des Raumes Paris geht es nicht nur rechts und links durch Gassen, Straßen und Türen, sondern freilich auch hoch und runter, quer über die Straße von Fenster zu Fenster – in bester Tradition der „Bourne"-Filme mit Matt Damon.
In der französischen Hauptstadt geht das Konzept besonders gut auf: Dort sind Häuser, Schächte, Keller, Räume so ineinander verschachtelt und aufeinander bezogen, dass mit Kamerabewegungen und Erzählschlenkern tatsächlich eine Stadt beschrieben wird. Zugleich bezieht Cavayé die Spannung seiner Verfolgungsjagden und statischen Gegenüberstellungen schon aus der Mise-en-scène, bleibt immer dicht an den Protagonisten dran und bezieht die räumlichen Bedingungen mit in ihr Verhalten ein. Nicht minder überzeugend ist die clever organisierte Handlung, in der Samuels Situation immer auswegsloser wird. Im Prinzip ist „Point Blank" ein untypisch unaufdringliches Buddy-Movie – über Samuels und Sartets überlebensnotwendige Partnerschaft entwickelt sich wiederum eine besondere Vertrautheit, die dabei mit Freundschaft denkbar wenig zu tun hat.
Sartets Wandel vom bedrohlichen Fremden zum problematischen Sympathieträger ist Roschdy Zem dabei jederzeit vom Gesicht abzulesen. Auch Gilles Lellouche überzeugt als unter Starkstrom stehender Samuel auf ganzer Linie. Im Finale spielt Cavayé noch einmal alle Stärken seines Films aus: Da gibt es ein Katz-und-Mausspiel in einer großen Polizeistation – durch Gänge und Treppenhäuser geht die Jagd, während sich in kleinen Zimmern Dramen und Kämpfe abspielen, die alles entscheiden. An gleicher Stelle hat man vorher schon die Polizisten agieren sehen; hier zeigt sich die Sparsamkeit, mit der Cavayé „Point Blank" so elegant, direkt und effizient inszeniert. Das ist die größte Qualität des Films: Mit all seinen Verschwörungen, Verwirrungen und Verfolgungen bleibt „Point Blank" jederzeit dicht gewoben und schlichtweg aufregend.