„Es kommt der Tag, da will man in die Fremde, dort wo man lebt, scheint alles viel zu klein. Es kommt der Tag, da zieht man in die Fremde und fragt nicht lang, wie wird die Zukunft sein. Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong, hab ich Sehnsucht nach der Ferne - Aber dann in weiter Ferne, hab ich Sehnsucht nach zu Haus. Und ich sag zu Wind und Wolken: Nehmt mich mit, ich tausche gerne all die vielen fremden Länder gegen eine Heimfahrt aus.“ (Freddie Quinn: Unter fremden Sternen)
Lola (Barbara Sukowa) – das ist die Heimat und die Fremde, das Eigene und der Traum vom Anderen, das Glücksversprechen in einer Zeit, die man gemeinhin als Zeit der Restauration, des konservativen Wiederaufbaus und der Verdrängung der Vergangenheit bezeichnet. Lola – das ist aber auch eine Frau aus Fleisch und Blut, eine berechnende und zugleich nach Leben gierende Frau. Lola – das ist die Mutter einer unehelichen Tochter und die Sängerin in einem Etablissement, das zwischen Kitsch und Gesang, Prostitution und Show das zweite Zentrum der Stadt Coburg bildet, neben dem Rathaus, in dem die wichtigen Entscheidungen zwar nicht getroffen, aber abgesegnet werden, Entscheidungen, die die Stadt nach vorne bringen sollen.
Lola versteht es, die Männer, die Herren der Stadt, in ihren Bann zu ziehen. Lola ist intelligent, denn sie kennt ihren Weg zwischen Rebellion und Anpassung. Dieser Weg ist ein bestimmter, einer, der der Zeit angemessen ist. Ihre Rebellion und ihre Anpassung sind ebenso bestimmt, keine abstrakten Mittel für abstrakte Ziele. Wir befinden uns nicht im Himmelreich und nicht in der Hölle, nicht irgendwo und irgendwann, sondern in der Phase der Nachkriegszeit an einem konkreten Ort mit konkreten Menschen in konkreten Umständen.
Diese Feststellung ist wichtig. Denn sie ist die Voraussetzung, die Fassbinder dazu veranlasste, aus einem ursprünglich geplanten Remake von „Der blaue Engel“ (1930) einen ganz anderen Film zu drehen, der mit „Die Ehe der Maria Braun“ (1978/79) und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ (1981/82) die so genannte „BRD-Trilogie“ bildet – eine Trilogie, die sich mit der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, den 50er Jahren beschäftigt. Ein Blick, wie Fassbinder immer wieder betonte, nicht als Rekonstruktion einer (ominösen) historischen Wahrheit über die 50er Jahre gedacht, nein, ein subjektiver Blick auf die 50er Jahre aus den 70er Jahren heraus.
„Am Tag als der Regen kam, langersehnt, heißerfleht, auf die glühenden Felder, auf die durstigen Wälder, am Tag als der Regen kam, langersehnt, heißerfleht, da erblühten die Bäume, da erwachten die Träume, da kamst du. Ich war allein im fremden Land, die Sonne hat die Erde verbrannt, überall nur Leid und Einsamkeit, und du, ja du, so weit, so weit. Doch eines Tages vom Süden her, da zogen Wolken über das Meer, und als endlich dann der Regen rann, fing auch für mich das Leben an, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja. Am Tag als der Regen kam, langersehnt, heißerfleht, auf die glühenden Felder, auf die durstigen Wälder, am Tag als der Regen kam, weit und breit, wundersam, als die Glocken erklangen, als von Liebe sie sangen, da kamst du, da kamst du.“ (Dalida: Am Tag als der Regen kam)
Fassbinder visualisiert eine Stadt mit bereits festgefügten Mechanismen des politischen, sozialen und kulturellen Lebens. Ein Bauunternehmer, Schuckert (Mario Adorf), ist der ungekrönte Herrscher von Coburg, flankiert von Bürgermeister Völker (Hark Bohm), Polizeichef Timmerding (Karl-Heinz von Hassel), Sparkassenleiter Wittich (Ivan Desny) und einigen wenigen anderen Honoratioren. Sie alle treffen sich nicht nur im Rathaus, um die Geschicke der Stadt zu bestimmen, sondern auch in der Villa der Frau Fink (Sonja Neudorfer), einer Mischung aus Bordell und Cabaret, aus Vergnügen und Bindung – Bindung zwischen den Mitgliedern der örtlichen modernen Patrizier. Lola gehört Schuckert. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Schuckert zahlt ihr Geld, auch für ihre Tochter Mariechen (Ulrike Vigo), er zahlt ihr eigentlich alles, und wäre auch bereit, ihr die „Villa Fink“ zu kaufen. Lola ist Schuckerts Mätresse. Seine Frau (Rosel Zech) weiß dies, genau wie die Ehefrauen der anderen wissen, was ihre Männer in die Villa treibt, in der Gigi (Elisabeth Volkmann), Rosa (Y Sa Lo) und Susi (Christine Kaufmann) als Prostituierte arbeiten.
Als der neue Baudezernent von Bohm (Armin Mueller-Stahl) seinen Posten antritt, sehen sich Völker und Schuckert einem Mann gegenüber, der Korruption und Vetternwirtschaft wegräumen will, einem, der sich als moralisch integer versteht. Gefahr im Verzug. Von Bohm verliebt sich in Lola, von der er jedoch nicht weiß, dass sie in der Villa singt und Schuckert gehört. Und dann ist da noch der Träumer und Kriegsgegner, Bakunin-Leser und Angestellte im Baudezernat Esslin (Matthias Fuchs). Auch er ist verliebt in Lola, aber er hat kein Geld. Er muss sich darauf beschränken, in der Villa Schlagzeug zu spielen, um Lola zu sehen. Und er sinnt auf Rache. Der Tag wird kommen, meint er, und zeigt dem Moralisten von Bohm die „Villa Fink“ und Lola. Jetzt, meint von Bohm, ist der Zeitpunkt gekommen, um den herrschenden Familien samt ihrer Huren den Garaus zu machen.
Doch von Bohm hat nicht mit Schuckerts Intelligenz gerechnet ...
Zweifellos liegt eine Interpretation von „Lola” nahe, die die 50er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland als eine Zeit beschreiben, in der sich Korruption, miefige Kleinstadtenge und skrupelloses Geschäftemachen die Klinke in die Hand geben. Lässt man den Film allerdings genauer Revue passieren, fällt zunächst auf, wie Fassbinder die Personen zueinander gruppiert, wie er die Geschichte auflöst und dass ihn eigentlich nicht so sehr die Frage interessiert, dass es Korruption und Vetternwirtschaft gab, sondern wie sie zustandekommen – in einem weiteren Sinne: wie nach 1945 respektive 1949 in so schneller Zeit das sog. „Wirtschaftswunder” möglich gewesen ist.
Lola ist eine Frau, die erkannt, erspürt hat, wie sie zugleich emanzipiert sein, als auch Teil der Männerwelt bleiben kann. Selbstbehauptung, das hat sie erkannt, ist nicht möglich, wenn sie die Spielregeln der feinen Gesellschaft konterkariert, sondern nur, wenn sie sie für sich ausnutzen kann. Sie lässt sich von Schuckert bezahlen, aber der Besitz Schuckerts an ihr ist eben „nur” Besitz, kein Eigentum. Sie drängt auf Selbständigkeit, und das heißt „ganz einfach” Zugehörigkeit zur besseren Gesellschaft in Coburg. Dies erreicht sie letztlich dadurch, dass Schuckert sie „zur Ehe freigibt”: Sie heiratet am Schluss von Bohm und wird damit Teil der führenden Schicht in Coburg. Dieser Handel kommt dadurch zustande, dass Schuckert in seiner Weitsicht erkannt hat, dass von Bohm nur dadurch in das soziale Gefüge integriert werden kann, wenn er das bekommt, was er wirklich will: Lola. Aber Lola erreicht noch mehr. Bisher waren es nur die Männer, die sich neben ihren Ehefrauen Geliebte leisten konnten. Das kann Lola jetzt auch. Sie ist verheiratet und „leistet” sich Schuckert weiterhin. Selbst dessen arrogante Frau zollt ihr Respekt, wenn sie am Schluss zu Lola sagt, sie sei eine Frau, mit der man rechnen muss – anstatt ihr die Augen auszukratzen.
Schuckert hat die Spielregeln der „sozialen Marktwirtschaft”, wie sich der Kapitalismus nun – gelehrt durch die Erfahrungen im Nationalsozialismus – nennt, verinnerlicht. Er weiß, worauf es ankommt: auf soziale Integration statt auf Feinderklärung (Erhard nannte dies „formierte Gesellschaft”). Von Bohm ist Schuckert „eigentlich” sympathisch. Zunächst rät er Völker, von Bohm zu entlassen. Doch dann erkennt er, dass von Bohms Schwäche – die Liebe zu Lola – eine viel bessere Möglichkeit bietet, den aufbegehrenden Moralisten in das Gefüge der Stadt zu integrieren. Das gelingt. Die Geschäfte gehen weiter.
Von Bohm wird an seinem wunden Punkt getroffen: seiner Liebe zu Lola. Diese Liebe bzw. überhaupt die Liebe ist der zentrale Punkt, an dem Integration letztlich gelingt. Dies deutet – erneut – auf Fassbinders Zweifel an der Auffassung von Liebe als Möglichkeit des Gelingens persönlicher Beziehungen. Noch deutlicher als in seinen anderen Filmen wird in „Lola”, dass Fassbinder Liebe als ein „politisches” Konzept ansieht, das rein funktionalen Charakter hat – entweder in Richtung (Selbst-)Zerstörung oder in Richtung der Realisierung sozialer (herrschender) Integration. Von Bohm und Lola werden durch ihre – durch Schuckert vermittelte und „genehmigte” – Heirat in das moderne Patriziat der Stadt aufgenommen, Mariechen, Lolas uneheliche Tochter, bekommt einen legalen Vater – die Verhältnisse entsprechen der gewollten Ordnung.
Esslin, der Träumer, der diese herrschenden Verhältnisse verachtet, der Bakunin liest und an Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung teilnimmt, wird zwar von Bürgermeister Völker am Schluss entlassen, weil er die führenden Herren der Stadt wegen ihrer Heuchelei verhöhnt. Doch auch hier ist es Schuckert, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und Esslin eine Arbeit in seinem Bauunternehmen anbietet. (Schon vorher hatte Schuckert den Kriegsgegnern eine ordentliche Geldspende gegeben.) So gelingt ihm auch bei Esslin, was an Integration notwendig ist, um in der Stadt Frieden zu stiften und den Widerstand zu kontrollieren.
Wenn im Film das Wahlplakat Adenauers mit dem Titel „Keine Experimente” aus dem Jahr 1957 gezeigt wird, so wird durch die Handlung deutlich, wie Fassbinder diese Aussage des damaligen Bundeskanzlers interpretiert. Er bezieht dies (übrigens wie Adenauer selbst auch nicht) nur auf den Ost-West-Konflikt, sondern vor allem auf die stabile innere Lage, auf eine stabile politische und soziale Ordnung, in der alles seinen geregelten Gang geht. Dies funktioniert – so der Film – nicht in der Hauptsache über Unterdrückung und Gewalt, sondern über spezifische integrative Mechanismen – so jedenfalls Fassbinder: die Instrumentalisierung starker persönlicher Zuneigung (bei Lola und von Bohm) einerseits, die Umleitung von unproduktiven Rachegefühlen (bei Esslin) in produktive Tätigkeiten, in dem er dem Träumer eine reale Basis in seinem Unternehmen schafft, ihm also eine gewisse Macht (unter Schuckerts Aufsicht) verschafft, seine Abneigung gegen die herrschenden Familien der Stadt also produktiv wendet.
„Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt, Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt, Zieh’n die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus, Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus. Nur die Sterne sie zeigen ihnen am Firmament. Ihrem Weg mit den Bildern, die jeder Fischer kennt. Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt, Hör von fern wie es singt: Bella, bella, bella Marie, Bleib mir treu, ich komm zurück morgen Früh, Bella, bella, bella Marie, Vergiss mich nie. Wie der Lichterschein draußen auf dem Meer Ruhelos und klein, was kann das sein. Was irrt so spät nachts umher? Weißt Du was da fährt? Was die Flut durchquert? Ungezählte Fischer, deren Lied von fern man hört ...“ (Rudi Schuricke: Capri-Fischer)
Trotz dieser kompakten, in sich geschlossenen Handlung, die ihre Logik in sich entfaltet, verzichtete Fassbinder nicht darauf, der Fassade, die dieser sozialen Ordnung anhaftet, ja anhaften muss, einen entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Nicht nur das Ambiente der „Villa Fink” mit ihren Bonbonfarben und die Schlager der 50er Jahre, auch die knalligen, ja überdeutlich aufgesetzten Farben des Films deuten diese „Scheinheiligkeit” des Geschehens an: das plakative Rot der Villa, das Blau in von Bohms Wohnung zum Beispiel. In einer Szene sitzen von Bohm und Lola im Auto; es ist dunkel. Von Bohm ist in Blau, Lola in Rosa gefilmt, also die berühmten Babyfarben. Als sie sich küssen, bleibt diese farbliche Differenzierung aufrechterhalten. Diese Übertreibung repräsentiert letztlich das, was man die Popkultur der 50er Jahren in einem weiteren Sinne bezeichnen könnte und sich verbal in den Schlagern von Rudi Schuricke, Freddie Quinn und Dalida ausdrückt: Fernweh und Heimweh als in den Schlagern rührselig bis kitschig, aber dennoch bei näherer Betrachtung sehr deutlich formulierte Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, und damit auch die unerfüllte Sehnsucht nach „echten” und ehrlichen Gefühlen, die in die Ferne, in den Süden zumal, projiziert werden, und die Einsicht, dass man dem realen „zu Hause” nicht entfliehen kann.
Genau dies gilt für die Handelnden in „Lola”. Das „Offizielle” ihrer persönlichen Beziehungen ist nicht echt, weil die Ehen Schuckerts, Völkers und dann auch von Bohms und Lola weitgehend Konvenienzehen sind, während ihre wirklichen sexuellen Verhältnisse – geknüpft in der „Villa Fink” zwar echt, aber „inoffiziell” sind. Aus dieser Verschiebung und Verlagerung scheint es keinen Ausweg zu geben.
Man mag zu alldem, was in „Lola” gezeigt wird, Widerstand empfinden. Aber Fassbinder ging es in seiner „BRD-Trilogie” nicht um Empörung. Er suchte ganz offensichtlich nach Erklärungen, wie sich nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland Gesellschaft wieder konstituierte und welche Mechanismen dafür maßgeblich waren. Eine Sicht aller drei Filme lässt dies deutlich spürbar werden. (Zuerst erschienen bei CIAO)