Seit 1971 dreht Volker Koepp („Herr Zwilling und Frau Zuckermann“, Holunderblüte) Dokumentarfilme, meist in den Landschaften zwischen Berlin, der Stadt, in der er nach dem Krieg aufgewachsen ist, und Stettin, der Stadt, in der er im Juni 1944 geboren wurde. Die Wechselfälle der deutschen Geschichte haben tiefe Spuren in diesen Landstrichen hinterlassen. Ihnen spürt Volker Koepp immer wieder von neuem nach. Er kommt einfach nicht los von dem Land zwischen Elbe und Oder. Genauso wenig wie von den Menschen, die dort leben. Sie sind seine Heimat, im biographischen wie noch mehr im filmischen Sinne. Zusammen mit seinem langjährigen Kameramann Thomas Plenert hat er den Wandel dieser Landschaften in den vergangenen Jahrzehnten in Bildern von bewegender Schönheit festgehalten. Diese Verbundenheit mit den Orten, an denen er dreht, diese gänzlich unsentimentale, niemals in ein verfälschendes Pathos umkippende Liebe zu seiner Heimat, macht Koepps Filme einzigartig im deutschen (Dokumentar-)Kino. In „Berlin-Stettin“ macht er sich nun auf eine faszinierende Suche nach seinen eigenen Spuren.
Alles beginnt mit einem Brief. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war Koepps Mutter Thea mit ihren Kindern aus Stettin, dem heutigen Szczecin, geflohen. Untergekommen sind sie auf einem Gut in Broda bei Neubrandenburg. Dort lebte auch die damals 10-jährige Doris Krause, die Koepp 2006 geschrieben hat. Sie war seinerzeit Zeugin, wie Thea Koepp und mehrere andere Frauen auf dem Gut von Soldaten der russischen Besatzungsarmee vergewaltigt wurden. Ihre Erinnerungen werden zum Ausgangspunkt für Volker Koepps Trip in seine Vergangenheit. Nach einem Treffen mit einer ehemaligen Schulkameradin, mit der er in den frühen 50er Jahren dieselbe Volksschule in Berlin-Karlshorst besucht hat, bricht er zu einer Reise auf, die ihn zu den Drehorten seiner Filme führt: nach Zehdenick, wo die „Märkische Trilogie“ entstanden ist, nach Wittstock, dort hat er in mehr als 20 Jahren insgesamt sieben Filme gedreht, nach Schwaan in Mecklenburg, dem Schauplatz von „Tag für Tag“, und schließlich auch nach Stettin …
Volker Koepp war immer präsent in seinen Filmen, vor allem natürlich in ihren Bildern, in den Landschafts- und Porträtaufnahmen, die seinen Blick reflektieren, aber eben auch als Stimme aus dem Off, die ihrem Gegenüber meist ein wenig vage, sehr offene Fragen stellt. Diese zurückgenommene, eher indirekte Präsenz war dabei mehr als nur eine Technik und auch mehr als nur ein Weg, die Leute zum Erzählen zu bringen. Die Arbeitsbedingungen in der DDR machten diesen indirekten Zugriff notwendig. Er war es, der Volker Koepp genauso wie seinen Gesprächspartnern eine gewisse Freiheit gab. Vieles konnte nicht offen an- oder gar ausgesprochen werden, aber es schwang trotzdem immer mit, zwischen den Sätzen und zwischen den Bildern.
In „Berlin-Stettin“ richtet Volker Koepp nicht nur den Fokus auf seinen Weg und sein Werk. Er tritt auch stärker in Erscheinung, nimmt sich nicht mehr so zurück und ist viel klarer und konkreter in seinen Fragen. Und so fragt ihn Renate, die früher einmal Meisterin und Abteilungsleiterin in einem Wittstocker Textilbetrieb war und die er schon in den 70er Jahren porträtiert hat: „Warum hast du denn diesmal bessere Fragen gestellt?“ Die einfache Antwort wäre, weil er sich nun nicht mehr verstecken muss, weil er offen darüber sprechen darf, dass sein erster Dokumentarfilm, den er noch als Student der Filmhochschule in Babelsberg gedreht hat, eine Strafarbeit war. Aufgrund seiner Sympathien für den Prager Frühling war er 1968 ins Visier der Stasi geraten.
Das ist sicherlich auch einer der Gründe. Aber das Argument lässt sich auch Umdrehen. Im wiedervereinten Deutschland, in dem viele seiner ehemaligen Gesprächspartner zumindest ökonomisch auf der Strecke geblieben sind, in dem seit Jahren Rechtsradikale immer schamloser auftreten und sich mit ihren Gewalttaten ganze Landstriche erobern, gibt es keinen Platz mehr für indirekte Fragen. Die Präsenz des Ausgelassenen, die sich erst einem geschulten Auge offenbart, wird nun nicht mehr wahrgenommen. So wie Koepp einst vage sein musste, um das zu sagen, was zu sagen war, muss er nun ganz direkt und ohne Umschweife die Dinge beim Namen nennen.
Die Landschaften zwischen Berlin und Stettin sind heute noch so schön und beeindruckend wie vor 20, 30 oder 35 Jahren. Die größeren Städte wie Wittstock und Greifswald sind nun noch eindrucksvoller. Schließlich ist auch viel Geld in Baudenkmäler und historische Stätten geflossen. Aber die Zustände, in denen die Menschen leben, stehen immer noch in einem eklatanten Kontrast zum Land um sie herum. Arbeitslosigkeit und ein schon seit DDR-Zeiten praktisch institutionalisierter Fremdenhass, Rechtsextremismus und die Kälte einer neoliberalen Marktwirtschaft sind die heutigen Ausprägungen der Spuren, die die schwierige deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in Volker Koepps Heimat hinterlassen hat. Und ihnen lässt sich nur mit der Offenheit und Klarheit begegnen, die diese autobiographische Erkundung der Welt zwischen Elbe und Oder in jeder Einstellung prägen.