Begehren, Wut, Scham, Angst – die Affäre ist einerseits Supernova der Gefühle, andererseits markiert sie in Signalfarben eine Sollbruchstelle unserer westlichen Gesellschaft, die auf vernunftsorientierter Monogamie beruht. Die Möglichkeit, Leidenschaften als Gesellschaftskritik zu inszenieren, nutzten Regisseure für zahlreiche und sehr unterschiedliche Filme. Während beispielsweise Patrice Chéreaus „Intimacy" kurzzeitige Extase und emotionale Vereisung gegeneinander ausspielt, webt Mike Nichols' „Hautnah" ein kunstvolles Netz sexueller Intrigen und Machtspiele. Beide Filme nutzen das Thema, um Aussagen über die Natur des Menschen und seine soziale Ordnung zu treffen. Zwar nicht besser, aber deutlich subtiler begibt sich Regisseur Silvio Soldini mit seinem Drama „Was will ich mehr" auf die Suche nach dem Wesen der Normabweichung „Affäre" - subtiler vor allem deshalb, weil bei ihm weniger das Allgemeine als der Sonderfall zweier verzweifelt Liebender im Fokus steht.
Anna (Alba Rohrwacher) liebt Alessio (Guiseppe Battiston), Domenico (Pierfrancesco Favino) liebt Miriam (Teresa Saponangelo). So jedenfalls scheint es, bevor sich Anna und Domenico begegnen und einander verfallen. Regelmäßig treffen sich die beiden in einem abgeschiedenen Hotel, ihre jeweiligen Partner ahnen nichts von der leidenschaftlichen Affäre. Die Probleme werden größer, als sie sich ineinander verlieben. Immer weniger gelingt es den beiden, ihr Doppelleben geheimzuhalten - bald schon scheint eine Entscheidung unausweichlich...
Das Netz Soldinis ist engmaschig, gewoben aus lebensechten Dialogen und ein paar warmherzig-lustigen Szenen. Entsprechend schnell verfängt sich der Zuschauer darin und genießt es, Anna und Alessio in ihrem alltäglichen, liebevollen Umgang miteinander beim Einkaufen oder beim Treffen mit Freunden zu beobachten. Diese honigsüß gezeichnete Filmwelt macht es zunächst auch schwer, die plötzliche Affäre Annas zu akzeptieren. „Was hat ihr denn gefehlt?", fragt man sich. Nach und nach wird klar, dass die Protagonistin nicht zu wenig, sondern zu viel von allem hat. Zu viel Zuneigung, zu viel wattierter Alltag, vor allem aber zu viel vermeintlich sanfter gesellschaftlicher Druck: Alessio bittet Anna, die Pille abzusetzen, und mit Anfang Dreißig scheint der endgültige Wechsel in eine Form erwachsener Konformität unvermeidlich. Diese Übergangsphase hat Domenico schon hinter sich. Mit einer Frau und zwei Kindern sieht er sich konfrontiert mit existentiellen Problemen und dem Fehlen von Rückzugsräumen.
Immer wieder nutzt Soldini Geld als Dispositiv dieses sozialen Drucks. 74 Euro kostet der Supermarkteinkauf, 100 Euro das Stundenhotel, in dem Anna und Domenico absteigen. Es ist jedoch eines der wenigen symbolbesetzten Elemente im Film. Zwar zeigt Soldini durch die subtile Offenlegung der grundsätzlichen Drucksituation auch die Bedingungen für Annas und Domenicos Affäre auf, sein Fokus liegt jedoch eindeutig auf den individuellen Aspekten der Geschichte. So hält die Kamera beobachtend-naturalistisch vor allem das Minenspiel der Darsteller fest, stets sieht sich der Zuschauer auf Augenhöhe mit den Akteuren und damit in einer parasozialen Kommunikationssituation, die das Geschehen unvermittelt wirken lässt.
Auch beim Sex interessieren Soldini nicht die Körper seiner Darsteller, sondern ihre Gesichter. Insofern ist das Filmplakat, das die beiden Darsteller nackt und eng umschlungen zeigt, irreführend. Die Sexszenen sind, gerade im Kontrast zum eingangs erwähnten Beispiel „Intimacy", zurückhaltend und alle andere als lüstern gefilmt. Es ist ohnehin befriedigender, den inneren Kampf der Protagonisten an den Gesichtern der tollen Hauptdarsteller abzulesen. Rohrwacher und Favino erzählen mit ihrem ausdrucksstarken Spiel viel vom dem, was in den Dialogen unausgesprochen bleibt.
Soldini wollte nach eigener Aussage auf keinen Fall Partei für eine bestimmte Figur ergreifen. Genau das gelingt dem Film außerordentlich gut: „Was will ich mehr" lässt den Zuschauer ebenso unschlüssig zurück wie seine Protagonisten. Dass auf diese Weise keine sloganhaften Generalaussagen zum menschlichen Naturell getroffen werden, dürfte klar sein. Stattdessen überzeugt „Was will ich mehr" als stilles Charakterkino, das seinen Figuren in ihrer individuellen Zeichnung gerecht wird, auch wenn dadurch die allgemein menschliche, existentielle Untiefe des Stoffs nur bedingt ausgelotet werden kann.