Gleich von einer Mafia zu sprechen, ginge natürlich viel zu weit. Trotzdem hat die enorme Präsenz deutschsprachiger Comedians im Familienkino auch etwas Irritierendes. Mittlerweile gibt es kaum noch eine Synchronisation eines amerikanischen Animationsfilms, bei der nicht wenigstens einige Stars der deutschen Comedy-Szene in Erscheinung treten. Damit sichert man sich – quasi automatisch – einen zum Teil recht beachtlichen Publicityeffekt, aber auf der anderen Seite kann diese allzu durchsichtige Strategie auch ein gewisses Ressentiment provozieren. Irgendwann haben die Zuschauer einfach genug von den Stimmen von Anke Engelke, Rick Kavanian und Christian Tramitz – um nur ein paar der üblichen Verdächtigen zu nennen. Schließlich sind sie zudem auch noch ständig in deutschen Animationsfilmen zu hören. Michael Mittermeier ist zwar einer der wenigen deutschen Stand-up-Komiker, der bisher noch keiner Filmfigur seine Stimme geliehen hat. Doch nun spricht er den kleinen, übergewichtigen Drachen Hektor in „Hexe Lilli“, Stefan Ruzowitzkys Kinderfilm nach Motiven aus Knisters gleichnamiger Buchserie. Das scheint ins Bild zu passen. Doch manchmal erlebt man selbst im durch und durch kommerzialisierten Filmgeschäft noch angenehme Überraschungen. Michael Mittermeier geht ganz in seiner Rolle auf und hat damit letztlich sogar einen entscheidenden Anteil am anarchischen Charme dieses reizenden Familien-Fantasyfilms.
Seit Jahrhunderten bewacht die gute Hexe Surulunda (Pilar Bardem) das Hexenbuch. Mit der Zeit ist sie alt und der ständigen Attacken und Tricks des bösen Zauberers Hieronymus (Ingo Naujoks) müde geworden. Es ist ihr zwar gerade noch einmal gelungen, dessen neuesten Versuch, in den Besitz des magischen Buches zu kommen, zu durchkreuzen. Doch die Zeichen sind unübersehbar, die Zeit ist gekommen: Sie muss eine Nachfolgerin finden und zwar schon bald, damit nicht noch etwas Furchtbares passiert. Also schickt sie ihren ziemlich gefräßigen und auch ziemlich tollpatschigen Flugdrachen Hektor samt dem Hexenbuch los. Er soll Surulundas Nachfolgerin finden und landet schließlich bei der kleinen Lilli (Alina Freund). Nur nimmt die ihn erst einmal überhaupt nicht ernst. Ihre ganze Faszination gilt allein dem Buch und seinen Zaubersprüchen, mit denen Lilli schon bald allerhand Unheil anrichtet. Inzwischen wissen auch Hieronymus und sein in einem Mops verwandelter Gehilfe Serafim, dass Surulunda das Hexenbuch aus der Hand gegeben hat, und setzen alles daran, es in ihren Besitz zu bekommen. Schließlich könnten sie mit seiner Hilfe sogar eine Weltbeherrschungsmaschine bauen.
Auf den ersten Blick erscheint der Österreicher Stefan Ruzowitzky, dessen Holocaust-Drama Die Fälscher den begehrten Oscar für den besten nicht-englischsprachigen Film gewonnen hatte, einem möglicherweise als eine seltsame Wahl für ein Projekt wie „Hexe Lilli“. Schließlich hat er sich mit Filmen wie Anatomie und „Die Siebtelbauern“ bisher in ganz anderen Genres umgetan. Doch eines verband so ziemlich alle seine früheren Arbeiten: eine Freude am Exzess, an gezielten Grenzüberschreitungen, die längst nicht jedermanns Sache sind, wie die Reaktionen auf Anatomie 2 und seine Militärklamotte „Die Männer ihrer Majestät“ eindrücklich beweisen. Nicht ohne Grund sind gerade diese beiden Filme an den Kinokassen komplett untergegangen. Allerdings offenbart sich in ihnen der subversive Geist, der Ruzowitzkys gesamtes Werk durchweht, am deutlichsten. Er nähert sich den Konventionen eines Genres wie auch den in ihnen verborgenen Möglichkeiten mit einer ganz eigenen künstlerischen Naivität. Alles ist in seinen Filmen möglich, also kann ihm auch kein Effekt zu drastisch, kein Gag zu albern sein. Diese kindliche Lust am Machbaren wie auch am eigentlich nicht mehr Machbaren hat Ruzowitzky in der Vergangenheit sicherlich schon das eine oder andere Mal geschadet, doch diesmal ist sie sein großer Trumpf.
Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt und damit auch dem Blödsinn nicht. Dass der Betrachter den ganzen Hokuspokus in „Hexe Lilli“, die wüsten Verwicklungen wie auch die zum Teil recht irrwitzigen Effekte, nicht allzu ernst nehmen sollte, daran lässt Stefan Ruzowitzky von Anfang an keinen Zweifel. Wenn der böse Zauberer Hieronymus zu Beginn in Gestalt einer von Yvonne Catterfeld verkörperten Blondine auftritt, um sich dann Stück für Stück in Ingo Naujoks zu verwandeln, ist der Grundton der Geschichte etabliert. Das Böse reizt in Lillis und Hektors Welt eher zum Lachen als zum Gruseln. So stolpern Hieronymus und Serafim von einem Debakel zum nächsten und geraten dabei immer wieder in peinliche Situationen. Erst zum Ende hin, wenn es dem Zauberer tatsächlich gelungen ist, große Teile der Menschheit zu hypnotisieren, bekommen seine Pläne einen dämonischeren Zug. Ruzowitzky spielt in diesen Szenen geschickt mit kindlichen Urängsten: Unter dem Einfluss des machtbesessenen Magiers verwandelt sich die Welt vollends in einen Ort, an dem Kinder nur als Arbeitskräfte gebraucht werden. Die ganz alltägliche Erfahrung, dass Erwachsene oft keine Zeit zum Spielen haben, weitet sich zu einem Schreckensszenario aus, in dem für kindliche Wünsche und Träume kein Platz mehr ist.
Aber selbst in dieser entfernt an die Welt aus Michael Endes berühmten Roman „Momo“ erinnernden Passage des Films hält sich der Schrecken letztendlich in kindgerechten Grenzen. Ruzowitzky federt ihn immer wieder durch komödiantische Augenblicke und Zwischenspiele ab. Zum einen führt sich Hieronymus selbst im Moment seines (Beinahe-)Triumph noch ganz und gar töricht auf. Zum anderen ist da natürlich noch Hektor, der immer wieder seiner Fresssucht erliegt und damit Lilli und ihre Freunde mehr als einmal in Schwierigkeiten bringt. Aber natürlich wächst er schließlich doch über sich hinaus – wie auch alle anderen Figuren. Die von Hieronymus heraufbeschworene Krise hilft Lilli nicht nur, das Gute in sich zu entdecken, sie zeigt der jungen Hexe auch, dass die Menschen viel weiter kommen, wenn sie ihre kleinlichen Streitereien begraben und zusammenarbeiten. Das klingt vielleicht etwas didaktisch, und ist es im Endeffekt auch. Aber Ruzowitzky versteht es seine Botschaften ganz nonchalant in Szene zu setzen. Außerdem: Wer würde nicht jubeln und darüber alles andere vergessen, wenn der knuddelige Flugdrache Hektor endlich für mehr als nur ein paar Flügelschläge in der Luft bleibt.