1983 plante die niedersächsische Polizei eine Punker-Datei. Abgesehen davon, dass Punker ein unsinniges Wort ist, es eigentlich Punks heißen müsste, kam die Idee bei den Betroffenen auch sonst nicht sonderlich gut an. In der Landeshauptstadt Hannover waren Randale und Straßenschlachten die Folge, die berühmt-berüchtigten Chaostage waren geboren. Seitdem finden die Punk-Treffen immer wieder in verschiedenen deutschen Städten statt, wobei inzwischen auch andere Gruppen wie Hooligans oder Skinheads an den Ausschreitungen teilnehmen. Der Film „Chaostage“ des Piercingstudio-Betreibers und Fight-Club-Veranstalters Tarek Helayel beschäftigt sich nun aber weniger mit den realen Geschehnissen als vielmehr mit der wagen Idee hinter den Chaostagen. Seiner Ansicht nach kann die Verkettung zufälliger Ereignisse überall und zu jeder Zeit in einem Chaos kulminieren.
Helayel kombiniert Interviews, die er mit Punks der ersten Stunde wie „Toxoplasma“-Frontmann Wally, Schauspieler Ben Becker oder „Abstürzende Brieftauben“-Sänger Mikro Bogumil geführt hat, mit inszenierten Anekdoten. Diese basieren auf dem Roman „Chaostage“ des ZAP-Magazin-Gründers Moses Arndt und münden schließlich in einer Massenschlägerei vor einem geplünderten Discounter. Da gibt es den Punk Mitch (Danny Deyer), dessen Ex-Freundin etwas mehr „freie Liebe“ praktiziert, als er vertragen kann. Der Nazi-Chef Eddie (Christian Beuter) hat bei einem Fascho-Konzert zwischen den „Heil Hitler!“-Rufen nicht einmal genügend Zeit, um sich von seiner Freundin Anita (Henriette Müller) auf dem Dixie-Klo anständig einen Blasen zu lassen. Und Mitch (Christoph Letkowski) sinnt, nachdem er von zwei Bullen (Claude-Oliver Rudolph und Martin Semmelrogge) schikaniert wurde, auf Rache…
Die Intervieweinschübe, die im Film leider viel zu wenig Raum bekommen, vermitteln zumindest einen ungefähren Eindruck davon, was Anfang der 1980er Jahre in Deutschland abgegangen ist. Vor allem die Aussagen von Oberdemagoge Karl Nagel, der wie ein intellektuell interessiertes Rumpelstilzchen rüberkommt, und ZAP-Gründer Moses Arndt, der mir Ritterrüstung und Augenklappe bewusst sinnloses Zeug vor sich herbrabbelt, sind so herrlich krank, dass sie schon Lust darauf machen, mit den Leuten um die Häuser zu ziehen und Supermärkte auszuplündern. Doch dann gibt es da ja auch noch die Spielszenen - und die machen den Film leider vollkommen kaputt. Sie sind schwach inszeniert, trotz Gastauftritten von Helge Schneider und Rolf Zacher oft grottig gespielt und meist nur auf den schnellen kalkulierten Tabubruch aus. Wenn eine junge Frau auf dem Parkplatz vor einer Disco in erotischer Pose auf eine Windschutzscheibe strullert, ist das nicht subversiv, sondern Humor auf dem Niveau eines x-beliebigen American Pie-Epigonen.
In der einzig wirklich subversiven Szene des Films hält sich ein offensichtlich schwuler Nazi in seinem Keller eine windeltragende Sado-Maso-Gummisau, die einmal am Tag gefüttert und anal vernascht werden muss. Dass es bei der Premiere des Films in der hannoverschen Nordstadt zu blutigen Ausschreitungen kam, bei der 60 Punks festgenommen wurden, dürfte daher eher mit einer allgemeinen Idee der Chaostage als mit den tatsächlichen aufrührerischen Qualitäten des Films zu tun haben. Außerdem belässt es Ehlail auch nicht dabei, das Steinewerfen zu propagieren. Auch ein Feigling, der einen Polizisten in einen Hinterhalt lockt und per Kopfschuss richtet, wird zum romantischen Helden stilisiert. Und das hat – bei aller Systemfeindlichkeit der Veranstaltung – auch nichts mehr mit dem wahren Geist der „Chaostage“ gemein.
Fazit: Regisseur Tarek Ehlail wurde 1981 in Homburg/Saar geboren, hat also selbst die Anfangszeit des Punks nicht bewusst miterlebt. Mit „Chaostage“ will er diese von fliegenden Steinen geprägten Jahre zurückholen. Doch sein Film ist viel zu platt, um ernsthaft zu provozieren. Wenn Revolution heute so aussieht, ist die aktuelle Punk-Generation wahrlich nicht zu beneiden.