Nach schießwütigen Rednecks (Bowling For Columbine), George W. Bush (Fahrenheit 911) und dem US-Gesundheitssystem (Sicko) schlachtet Michael Moore nun die nächste heilige Kuh der Amerikaner: den Kapitalismus. Gerade rechtzeitig zur Weltfinanzkrise präsentiert Amerikas Vorzeige-Linker mit „Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte“ alle möglichen – stimmigen und weniger stimmigen - Gründe, das gegenwärtige Wirtschaftssystem abzuschaffen. Dabei offenbart sich auch diesmal wieder das alte Moore-Problem: Weil der Dokumentarfilmer mehr Wert auf Polemik als auf geölte Argumentationsketten legt, ist es seinen Gegnern ein Leichtes, sein Werk als bloßen Humbug abzutun. Deshalb ist auch „Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte“ erneut ein Film, der eher darauf abzielt, ähnlich tickende Kinogängern für ihre soziale Haltung auf die Schulter zu klopfen, statt Andersdenkende zu überzeugen.
Das reichste eine Prozent der amerikanischen Bevölkerung besitzt mehr als die 95 ärmsten Prozent zusammen. Bei soviel Ungerechtigkeit war es natürlich nur eine Frage der Zeit, bis das Arbeiterkind aus Flint, Michigan in die Bresche springt. Moore besucht Menschen, die gerade ihr Zuhause verlieren, weil raffgierige Banker ihnen Kredite vermittelt haben, die sie sowieso nie hätten bezahlen können. Er geht zurück in die 40er Jahre und zeigt, dass bereits Präsident Franklin D. Roosevelt in einem Entwurf für eine Erweiterung der Verfassung mehr soziale Gerechtigkeit einforderte. In Washington, D.C. deckt er auf, wie die Banken die Abgeordneten unter Druck setzten, als es im Oktober 2008 um die Verabschiedung eines 700-Milliarden-Dollar-schweren Konjunkturpakets („Bail Out“) ging. Und er wagt sich in die Höhle des Löwen, sprich: an die Wall Street, um die Schuldigen an der ganzen Misere persönlich zur Rede zu stellen…
Es scheint, als hätte Moore bei der Recherche zu „Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte“ seinen Humor eingebüßt. Denn statt die Lachmuskeln seiner Zuschauer zu traktieren, hat er es diesmal auf ihre Tränendrüsen abgesehen. Allerlei Einzelschicksale werden vorgestellt, wobei die Betroffenen immer wieder in Tränen ausbrechen. Sicherlich ist es nur gerecht, diesen Opfern des Systems ein Gesicht zu geben, doch dem Film fehlt die nötige Verbindung zwischen solchen Einzelfällen und dem großen Ganzen. Aus dem Umstand, dass jemand sein Haus räumen muss, direkt den Schluss zu ziehen, dass der Kapitalismus abgeschafft gehört, ist eben doch ein wenig zu kurz gedacht. Das ist besonders schade, weil Moore ja mit vielen Dingen eigentlich recht hat, aber diese löchrige Argumentation es seinen Widersachern viel zu leicht macht, seinen Film einfach als Unsinn abzustempeln.
Die dokumentarischen Unsauberkeiten, von denen sich etliche in den Film eingeschlichen haben, spiegeln sich in zwei der vorgebrachten Anti-Kapitalismus-Storys besonders gut wider. Auf der einen Seite fühlt Moore Konzernen wie „Walmart“ auf den Zahn, die Lebensversicherungen auf ihre Mitarbeiter abschließen, weshalb die Angestellten für das Unternehmen plötzlich tot mehr wert sind als lebendig. Das ist ein Beispiel, das die Absurdität und die Abartigkeit eines rein kapitalistischen Systems genau auf den Punkt bringt: Die Menschen dienen – selbst nach ihrem Tod – dem Unternehmen, wobei es doch eigentlich andersherum sein und die Wirtschaft den Menschen nutzen sollte. An anderer Stelle rollt Moore einen Vorfall auf, bei dem ein privater Betreiber einer Jugendhaftanstalt die zuständigen Richter bestach, damit diese höhere Strafen aussprechen. Dies ist aber nun kein Problem, das im System selber liegt. Vielmehr handelt es sich schlicht und einfach um Bestechung, wie sie auch im Sozialismus vorkommt. Als Argument gegen den Kapitalismus ist dieser Fall daher also überhaupt nicht geeignet.
Im Vergleich zu seinen vorherigen Filmen tritt Moore diesmal ein wenig mehr in den Hintergrund. Ganz auf Auftritte vor der Kamera zu verzichten, bringt der Filmemacher aber natürlich auch in „Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte“ nicht fertig. Ein wenig Selbstdarstellung muss eben einfach sein. Wenn Moore auf dem Weg zu Unternehmensvorständen – mal wieder – beim Sicherheitspersonal hängen bleibt oder ein ganzes Bankgebäude als Tatort absperrt, kommen diese Einlagen zwar über bloße Polemik nicht hinaus, aber amüsant sind sie dennoch. Nur am Ende nimmt sich der Regisseur dann doch wieder mal bedeutend zu wichtig. Anstatt mit einer bewegenden Hausbesetzung zu schließen, bei der eine verarmte Familie und hilfsbereite Nachbarn den Vertreter der Bank gemeinsam in die Flucht schlagen, rückt sich Moore im Finale künstlich selbst in den Mittelpunkt.
Fazit: „Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte“ ist ein aufrüttelndes, aber dokumentarisch unsauberes Pamphlet gegen die ungebremste Fortsetzung des Raubtierkapitalismus. Michael Moore sollte ernsthaft in Erwägung ziehen, einige seiner Taktiken zu überdenken, um nicht von vorneherein alle, die es angeht, zu verschrecken. Denn im Prinzip liegt er ja bei vielen Dingen richtig – und es wäre daher schön, wenn man seine Filme ernster nehmen könnte, als dies aktuell der Fall ist.