Der Mythos „Brazil“ begann schon lange bevor der Film zum ersten Mal in den Kinos vorgeführt wurde. Als Terry Gilliam dem US-Studio Universal im Jahr 1985 seine finale Schnittfassung des in England gedrehten Films vorlegte, war diese ganz und gar nicht nach dem Geschmack des allmächtigen Produzenten Sid Steinberg. Also ließ er Gilliams Version umschneiden und das düstere Ende entschärften. Der eigentlich 142 Minuten lange Film wurde auf 94 Minuten gekürzt. Doch da in Terry Gilliam schon immer ein kleiner Anarchist steckte, ließ er das natürlich nicht auf sich sitzen. Im Fachmagazin „Variety“ schaltete Gilliam eine ganzseitige Anzeige, in der er auf die Veröffentlichung des Films drängte. Zeitgleich veranstaltete er in L.A. illegale Vorführungen seiner Schnittfassung – nur für die Kritiker. Gilliam pokerte hoch. Doch letzten Endes zahlte sich dies aus. Die Kritiker-Vereinigung von L.A. zeichnete „Brazil“ als besten Film des Jahres aus und Universal brachte doch noch Gilliams Fassung in die Kinos. Aber worum geht es in „Brazil“ eigentlich?
Irgendwo im 20. Jahrhundert: Aufgrund einer Verwechslung im Informationsministerium (bei der eine zerquetschte Fliege eine nicht ganz unwesentliche Rolle spielt) wird der unscheinbare Bürger Mr. Buttle (Brian Miller) anstelle des illegalen Heizungsingenieurs Archibald Tuttle (Robert DeNiro) verhaftet und zu Tode gefoltert. Wer auch immer für dieses Desaster verantwortlich ist, ausbaden müssen es der Archivar Sam Lowry (Jonathan Pryce) und sein Vorgesetzter Mr. M. Kurtzmann (Ian Holm). Als Sam der Witwe Mrs. Buttle (Sheila Reid) die für solche Fälle vorgesehene Informationswiedergutmachungszahlung überreichen möchte, trifft er zum ersten Mal Jill Layton (Kim Greist). Sam verliebt sich sofort in die attraktive Blonde. Dumm nur, dass sie eine der Hauptverdächtigen in einer mittlerweile 13 Jahre andauernden Terror-Welle ist. Um seine Geliebte schützen zu können, nimmt Sam eine von seiner einflussreichen Mutter Ida (Katherine Helmond) eingefädelte Beförderung zur Informationswiederbeschaffung an. Schnell gerät Sam selbst in den Mittelpunkt der Ermittlungen seiner Kollegen…
Um „Brazil“ in all seinen Facetten zu verstehen, führt an der Vergangenheit von Regisseur und Autor Terry Gilliam kein Weg vorbei. Gilliam studierte am Occidental College in Eagle Rock (bei Los Angeles) Politikwissenschaften. Schnell wurde dem jungen Mann klar, dass der persönlichen Selbstverwirklichung immer ein übermächtiges System gegenüber steht, dem es sich unterzuordnen gilt. In Gilliam baute sich eine gehörige Frustration auf, die sich 1962 schlagartig entlud. Mit gerade einmal 22 Jahren heuerte er als Zeichner beim Satire-Magazin „Help“, der Schwester-Publikation des berühmten „Mad Magazin“, an. Dort zeichnet er sich nicht nur den Frust von der Seele, sondern lernte auch John Cleese kennen. 1967 zogen beide nach England und gründeten die legendären „Monty Pythons“. Spätestens jetzt konnte Gilliam seinen anarchistischen Humor voll ausleben. Doch auch dies war nur ein Zwischenschritt zu seiner ganz persönlichen Abrechnung mit dem Namen „Brazil“. Terry Gilliam: „Brazil war ein Film, der schon seit Jahren in meinem Kopf saß. Ich meine seit ungefähr zehn Jahren dachte ich über Dinge wie diese nach. Auf einer einfachen Ebene war dieser Film reinigend für mich. Er handelt wohl vor allen Dingen über meine eigenen Frustrationen und meine anscheinende Unfähigkeit, zu erreichen, was ich erreichen möchte und meine Unfähigkeit, ein System wirkungsvoll zu treffen, welches gänzlich falsch ist.“
„Brazil“ wurde zunächst unter dem Arbeitstitel „1984 ½“ entwickelt. Parallelen zu George Orwells Kult-Roman sind unverkennbar. Mit viel Biss zeichnet Gilliam seine ganz persönliche Zukunftsvision. Auch heute noch aktuelle Themen wie Bürokratisierung, Sicherheitswahn und das Bedürfnis nach Kontrolle werden von Gilliam aufgegriffen und ins Lächerliche gezogen. In „Brazil“ hat das Individuum keinen Platz. Liebe ist nichts mehr wert. Jeder Einzelne strebt einzig und allein nach dem gesellschaftlichen Aufstieg. Was zählt, sind Beförderungen. Sonst nichts. Und wenn sich in diesen stramm durchorganisierten Regierungs-Apparat ein menschlicher Fehler einschleicht, wird (ebenfalls ganz menschlich) weggeschaut und die Schuld von sich geschoben.
Der eigentliche Geniestreich von „Brazil“ ist allerdings sein Hauptcharakter Sam Lowry. Gilliam: „Ich stellte mir die Frage, wie man einer solchen Welt entkommen kann. Sam entkommt ihr, indem er wahnsinnig wird. Ich begann diesen Film mit der Frage im Hinterkopf, ob man einen Film machen kann, bei welchem das Happy End ist, dass jemand verrückt wird…“ Sams unausweichliches Ende zeichnet sich stets mehr als deutlich ab. Nur in seinen Träumen, in denen er zunächst engelsgleich über den Wolken fliegt, ist er frei. Für diesen Part hatte Gilliam von Beginn an Jonathan Pryce („Evita“, „De-Lovely“) im Kopf. Der gebürtige Waliser verleiht dem vielleicht menschlichsten Charakter in „Brazil“ viel Tiefe und ist in seiner Wandlung hin zum Wahnsinn stets überaus glaubwürdig. Auch für die Nebenrollen konnte Gilliam exzellente Mimen wie Ian Holm („Herr der Ringe - Trilogie“, „From Hell“), Jim Broadbent („Moulin Rouge“, „Iris“, „Vanity Fair“) und Bob Hoskins („Nixon“, „Unleashed“) für „Brazil“ gewinnen. Heimliches Highlight ist Robert DeNiro, der als eine Mischung aus Heizungsingenieur und Elite-Agent zu ganz großer Form aufläuft. Einzig Kim Greist fällt als Jill deutlich ab. Ihr Spiel als Sams große Liebe wirkt lustlos und blass. Doch dessen ist sich auch Gilliam stets bewusst gewesen. Eigentlich wollte er die Rolle der Jill mit Ellen Barkin besetzen. Auch mit Jamie Lee Curtis, Rosanna Arquette, Kelly McGillis und sogar Madonna wurde verhandelt. Greist wurde erst kurz vor Drehbeginn aus der Not heraus verpflichtet.
In kaum einem anderen Film gibt es so viel zu entdecken, wie in „Brazil“. Selbst beim vierten und fünften Sehen offenbaren sich neue, faszinierende Details, die den Film in neue Bahnen lenken und weitere Deutungsansätze erlauben. Allgegenwärtig ist dabei das musikalische Hauptmotiv „Aquarela do Brasil“ (auf dessen Einsatz der Zuschauer übrigens genau achten sollte). Trotz des bescheidenen Budgets von nur 15 Millionen Dollar ist Gilliam ein auch aus visueller Sicht herausragender Film gelungen. „Brazil“ kommt einem Trip gleich. Immer und immer wieder hämmert Gilliam seine subversiven Botschaften ins Hirn der Zuschauer, ohne dabei jedoch seinen ureigenen Humor zu verlieren. Sehr empfehlenswert...