In Heinrich von Kleists kunsttheoretischem Essay „Über das Marionettentheater" aus dem Jahr 1810 trifft der namenlose Erzähler auf den Ballett-Tänzer Herrn C. Dieser vertritt die Ansicht, nach dem Sündenfall habe die Menschheit ihre natürliche Anmut verloren, zumal er jenen defizitären Zustand mit der Leichtfüßigkeit der Marionettenpuppe kontrastiert, welche darin begründet liege, „dass in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt". Als bestätigendes Beispiel führt der Erzähler das Erlebnis eines jungen Mannes an, dessen Entdeckung, die eigene Körperbeherrschung beim Abtrocknen einer seiner Füße ähnele der antiken Statue des Dornausziehers, zur Unmöglichkeit führten, die vormals grazilen Bewegungen erneut zu vollziehen. Auf implizite und zugleich nachhaltige Weise benennt der Text die Faszination des Balletts für viele Rezipienten – das Changieren zwischen aufoktroyierter Choreographie und innerem Ausdruck. Überdies hat die Ballerina als Gestalt im Fokus ohnehin, aus eher banaleren Gründen, einen mythischen Status inne, oszillierend zwischen von Konkurrenzkampf getriebener, unnahbar-asketischer Diva und männlicher Wunschphantasie. Attraktiv für die Schwesterkünste des Balletts ist sie folglich ebenfalls, man denke etwa an Gemälde von Edgar Degas und August Macke oder Filme wie Michael Powells „Die roten Schuhe" (1948), Robert Altmans „The Company" (2003) oder Darren Aronofskys „Black Swan" (2010). Der US-amerikanische Dokumentarfilmer Frederick Wiseman, in seinem Metier aufgrund etlicher kompromissloser Werke (etwa „Near death", einem nahezu sechsstündigen Porträt einer Intensivstation) mit enormer Reputation ausgestattet, scheint wie prädestiniert für einen Blick in den schillernden Mikrokosmos des Ensembles Ballet de l'Opéra de Paris. Und mit „La Danse – Das Ballett der Pariser Oper" enttäuscht er die in ihn gesetzten Erwartungen auch dieses Mal nicht.
Jegliche nicht-diegetische Elemente, wie Kommentare oder nachträglich eingefügte Musik, werden von Wiseman abgelehnt, was auch dem 1995 entstandenen „Ballet", der das American Ballet Theatre begleitet, somit als Pendant zu „La Danse" angesehen werden kann, und seinem übrigen Schaffen eigen ist. Einem unsichtbaren Beobachter gleich schaut die Kamera gelassen umher, wobei sich dieser Eindruck noch durch den minimalen Einsatz von Zooms intensiviert. Insbesondere bei den Impressionen der Probenarbeit wird das Blickfeld eines Menschen nachempfunden; dieser schmucklose Stil sorgt für einen weitestgehend unverstellten Blick, doch wie der Regisseur einräumt, bedeute selbst die Wahl einer Einstellung bereits eine Wertung. Objektivität, falls man sie so nennen könne, bestände für ihn in der Wiedergabe der bei den Dreharbeiten für ihn erfassbaren „Wahrheit". Mit den starren Bildern menschenleerer Gänge oder auf Stillleben rekurrierenden Nahaufnahmen, die in starkem Kontrast zur Agilität der Tänzer stehen, verhandelt die Inszenierung essentielle medientheoretische Fragen. Der große Sprung von der Fotographie zum Film bestand ja gerade in der Entwicklung von „toten" hin zu „lebenden" Bildern. Auch ungeachtet solcher Diskurse ist der Wiseman'sche Minimalismus angemessen, insbesondere die narrative Struktur vermeidet bewusst jenes sich anbietende Muster, das Geschehen auf ein großes Ereignis, hier etwa eine Premiere, hin zu erzählen. Zudem kommen auch die anderen Bereiche der Institution zur Geltung, wie etwa die Kantine, Schneiderei oder Verwaltung. So entsteht eine kühle kaleidoskopartige Sicht in eine Welt, deren Verklärung ein Leichtes wäre.
Das Bemühen um einen umfassenden Blick – trotz alledem stehen freilich die Tänzer im Zentrum – sorgt jedoch für gelegentliche Längen. Gerade in der ersten Hälfte sind einige Szenen dann doch etwas zu redundant geraten, es sei denn, bei dem Betrachter handelt es sich tatsächlich um einen Balletomanen, der sämtliche Bewegungsabläufe zu beurteilen vermag. Allerdings sollte auch Wisemans Konsequenz hervorgehoben werden, keine Zugeständnisse an kommerzielle Erwägungen zu machen. Dies hat er auch nicht nötig, werden die Werke des inzwischen 80-Jährigen doch stets von der Senderkette Public Broadcasting Services finanziert, die in etwa mit unserem öffentlich-rechtlichen Fernsehen vergleichbar ist. Kenntnisse seiner methodischen Überlegungen oder der Geschichte des Balletts sind aber keine Grundvoraussetzung, um diesen Film goutieren zu können. Es geht vor allem um Momentaufnahmen einer Einrichtung, die Fremden üblicherweise Einsicht in ihr Inneres verwehrt. Dass die von atmosphärischem Licht umspielten, virtuosen Auftritte der Tänzer auf der Bühne den größten Eindruck hinterlassen, versteht sich von selbst, schließlich ist das Kino der Sprössling von „Jahrmarkt, Theater und Varieté" (Sigrid Lange), also vornehmlich ein faszinierendes Schauvergnügen, das der Lust an der Bewegung frönt. Dabei lässt es Wiseman jedoch nicht bewenden, denn „La Danse" versorgt Sinne und Geist mit reichlich Input, was im Zeitalter der Reizüberflutung doch ein beruhigendes Verdikt sein dürfte.