Gute Filme – egal ob Melodram oder Komödie - respektieren ihr Publikum. Gute Kinderfilme sollten deshalb Kinder ernst nehmen und sie nicht mit Blödeleien oder Klischees abspeisen. Doch genau das tut Karola Hattop in ihrem „Das Morphus-Geheimnis“, indem sie eine Plattitüde an die nächste reiht und weder genau hinsieht noch mit Einfallsfreude glänzt. Dabei birgt die Grundidee eine Menge Potenzial für Fragen, die eng mit dem Kindsein verwoben sind: Ge-und Missbrauch von Macht, Selbstbehauptung und Rollenbilder. Das meiste davon wird jedoch leichtfertig verschenkt.
Für Nicki (Jonas Hämmerle) ist das Leben kein Zuckerschlecken: Der musikalische Junge wird von raubeinigen Mitschülern als Streber gehänselt, seine Mutter (Charlotte Crome) nimmt ihn bei aller Betüddelung gar nicht richtig wahr und in den Augen seines Vaters (Michael Roll) ist er ein Weichei. Nur seine pfiffige Klassenkameradin Marta (Magali Greif) findet ihn ziemlich okay, so wie er ist. Per Notrufsender ist sie für ihn auch erreichbar, als sein Vater ihn zu einem Abenteuerwochenende mit in die Berge nimmt, um ihm etwas mehr Schmackes einzutrichtern. Schließlich hatte sie zuvor zwei dubiose Männer vor Nickis Haus beobachtet. Nickis Vater startet dennoch fröhlich ins „Männerwochenende“, nicht ahnend, dass der brave Sohnemann eine kleine Wunderwaffe im Gepäck hat: Noten aus Beethovens Nachlass, die jeden sofort in Schlaf fallen lassen, der sie hört. Die beiden Gauner Max (Oliver Korittke) und Kwapisch (Arndt Schwering-Sohnrey) haben mit den Noten Kriminelles im Sinn und heften sich an die Fersen des wandernden Vater-Sohn-Gespanns…
Das Autoren-Duo Andrzej Maleszka und Joshua Sinclair lässt kaum ein Klischee aus, um der Story – trotz fehlender Figurenentwicklung - den nötigen Drive zu geben. Nickis Vater bringt als Pilot das Geld nach Hause, kennt seinen Sohn aber kaum. Die Mutter übt sich darin, den 10-Jährigen immer noch wie ein Kleinkind zu verhätscheln, ist aber vor lauter Fürsorglichkeit nicht in der Lage, ihrem Sohn richtig zuzuhören. Oliver Korittke („Bang Boom Bang“, „Das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur Paarungszeit“) und Arndt Schwering-Sohnrey (Die Fälscher) bemühen sich, den Charme der ungleichen Tollpatsche Dick & Doof auszustrahlen, bringen es dabei jedoch nicht allzu weit. Dafür fehlen dem Drehbuch einfach die Ideen.
Mit Nicki ist hingegen eine Figur entstanden, die das Problem der geschlechtsbedingten Rollenbilder zumindest im Ansatz aufgreift. Ein eher ängstlicher, schwächlicher Junge mit Gespür für Musik passt nicht so recht in die sprichwörtlichen Schubladen. Leider erreicht Nicki Anerkennung und Selbstbestätigung nur in sehr geringem Maße durch das Ausleben seiner Veranlagung, sondern hauptsächlich dadurch, dass er sich den Vorstellungen anderer anpasst und doch noch seine „männlichen“ Tugenden entdeckt. Das ganze Abenteuer setzt weder bei ihm noch in seiner Umgebung, die ja durchaus mit Seitenhieben kritisiert wird, einen Prozess in Gang. Der Film kann sich nicht recht entscheiden, welche Geschichte er erzählen will, und bringt so Elemente aus verschiedenen Genres ein, ohne sie sinnvoll miteinander verknüpfen.
Für die märchenhafte Story um eine magische Partitur, die jeden in einen Dornröschenschlaf versetzt, hat Karola Hattop („Wer küsst schon einen Leguan?“) mit dem Schloss Wernigerode eine wunderbare Kulisse gefunden. Hier oben, in einer durch starken Schneefall von der Außenwelt abgeschnittenen Welt, scheinen die Dimensionen leicht verschoben. Gerade angesichts der Möglichkeiten, die diese Landschaft bietet, macht sich aber bemerkbar, dass die Regisseurin und auch ihr Kameramann Sebastian Richter bisher hauptsächlich für das Fernsehen tätig waren. Momente, in denen die Düsternis des verwinkelten Hotel-Baus genutzt wird, um Atmosphäre zu generieren, sind selten. Die vereinzelten schönen Einstellungen können das Gefühl nicht verdrängen, sich eine Fernsehproduktion anzusehen, die für die Leinwand nur ein wenig aufgeblasen wurde. Die ausgedehnten Dialoge, die nichts allein den Bildern überlassen, tun ein Übriges, um diesen Eindruck zu erwecken. Dass sich die Story mit einigen logischen Sprüngen behilft, um die kindliche Verbrecherjagd am Laufen zu halten, ist hingegen leicht zu verzeihen.
Erstaunlich viel holen vor allem die beiden Kinderdarsteller Jonas Hämmerle (Wickie und die starken Männer) und Magali Greif aus dem Plot heraus. Schade, dass Debütantin Greif nicht eine größere Rolle eingeräumt wurde. Ihr sieht man besonders gerne dabei zu, wie sie als Marta respektvoll dem zaghaften Nicki zu etwas mehr Wagemut verhilft. Amüsant sind auch die Auftritte von Nadine Schori, die als stockkonservative Hotelmanagerin durch ihr akzentuiertes Spiel überzeugt.
Fazit: „Das Morphus-Geheimnis“ genügt den Ansprüchen an seichte Familienunterhaltung, für großes Kino reicht es hingegen hinten und vorne nicht. Dies liegt vor allem an der inkonsequenten Haltung des Films, der sich nie richtig entscheiden kann, was er eigentlich sein will: Slapstick, Jugenddrama oder Abenteuer.