Wie geht eine Gesellschaft mit alten Menschen um? Demographische Vorausberechnungen, Rückgang der Zahl der Neugeburten und ein schlecht ausgebauter Sozialsektor sind Faktoren, die den Bereich der Altenversorgung zu einer brisanten politischen Frage werden lassen. Wichtig erscheint dabei vor allem, wie man mit der „Biomasse“ der Großelterngeneration umzugehen hat; wie deren Körper, in Altersheimen liegend, ein würdiges Dasein gewährleistet werden kann. Das Regiedebüt „Ich will dich – Begegnungen mit Hilde Domin“ von Anna Ditges gibt auf diese Fragen zwar keine Antwort, geschweige denn, dass dies auch nur irgendwie beabsichtigt wurde, vielmehr zeigt die Dokumentation die andere Seite der Medaille, die in der Diskussion um eine Verwaltungsproblematik zunehmend vernachlässigt wird. Der einzelne Mensch interessiert kaum. Die Regisseurin Anna Ditges (Jahrgang 1978) begleitete mit ihrer Kamera über einen Zeitraum von zwei Jahren eine der wichtigsten deutschen Lyrikerinnen der Gegenwart – Hilde Domin (Jahrgang 1909). Die dabei entstandene intensive Beziehung zu der alten Dame trug dazu bei, diese, mit ihrer ganzen Persönlichkeit mit all ihrer reichen Erfahrung und Lebensweisheit, ihrem Humor und ihren Allüren in dem einfühlsamen Portrait festzuhalten.
Anna Ditges kommt, mit ihrer Kamera ausgestattet, am Haus von Hilde Domin an. Zuvor hat sie ein Treffen mit ihr vereinbart und sie darüber informiert, einen Dokumentarfilm über sie machen zu wollen, in dem die Lyrikerin so dargestellt werden sollte, wie sie wirklich ist. Hilde Domin erklärte sich einverstanden, auch wenn sie ansonsten der Öffentlichkeit mit Vorbehalt begegnet ist. In der Folge entwickelt sich nach und nach eine Vertrautheit zwischen den zwei Frauen, die fast 70 Jahre voneinander trennen. Die Kamera, als Dritte im Bunde, ist eher geduldet, als dass ihre Anwesenheit akzeptiert wird. Die Rituale des Alltags, die im Aufstellen von Rosen, dem Füttern von Vögeln und viele andere Kleinigkeiten, die das tägliche Leben ausmachen, sind ein Teil dessen, was zur „wahren“ Hilde Domin gehört. Dazu kommen interviewartige Szenen, in denen die Domin über Kunst, Lyrik, ihre Vergangenheit, Politik, Liebe und immer wieder über ihren verstorbenen Mann, beziehungsweise die Einsamkeit nach seinem Tode 1988, spricht. Für Abwechslung und Ablenkung sorgen gemeinsame Reisen zu den Orten ihrer Kindheit in Köln oder anderen Punkten der Vergangenheit. Auch offizielle Termine fehlen nicht auf der Agenda, zu denen Lesungen vor Publikum aus neuen und älteren Texten zählen, und, als Highlight, eine Sitzung bei dem Bildhauer Thomas Duttenhoefer, der eine Porträtbüste von Hilde Domin anfertigt.
„Was braucht man, um ein gutes Gedicht zu schreiben?“, fragt Anna Ditges die Lyrikerin Hilde Domin eines Tages. „Ein leeres Papier und einen Stift“, gibt diese kurz und erheitert zur Antwort. Ebenso könnte man die Filmemacherin fragen: „Was braucht man, um einen guten Film zu drehen?“ Und die Antwort könnte ähnlich lauten: „Eine Kamera und eine Idee.“ Im Alleingang unternahm Anna Ditges ihr erstes Projekt. Sie schnappte sich eine Kamera und ging damit zum Altersdomizil der Dichterin nach Heidelberg und fing zu drehen an. Ein großes Team, selbst nur eine einzige Person mehr – ursprünglich dachte Anna Ditges darüber nach, eine Kamerafrau zu engagieren – hätte man dem Film deutlich angemerkt, da die Situationen, die so entstanden, ja, die Freundschaft die sich zwischen den zwei Frauen entwickelt hat, nicht hätte zustande kommen können. Einziger Wehmutstropfen, den man durch die Herangehensweise in Kauf nehmen muss, sind die manchmal unkontrollierbaren Kameraeinstellungen, wenn beispielsweise bei einem der Spaziergänge Hilde Domin von der „Frau für alles“ an dem einen Arm geführt wurde, sie gleichzeitig nach dem Weg sucht, sich mit der Domin unterhält und parallel dazu mit der anderen Hand die Aufnahme unter Kontrolle hat. Zugleich gehören diese Einstellungen zum Ansatz des Projekts, bei dem nichts geschönt werden sollte.
Ein besonderes, geradezu spannungserzeugendes Element bei der Arbeit mit Hilde Domin, stellt deren gewohnter Umgang mit der Öffentlichkeit dar. Ist man, im kleineren oder größeren Umfang, prominent, wird auf der Straße erkannt oder steht im Interesse der Öffentlichkeit, ist es nicht selten zu beobachten, wie solche Menschen sich eine Maske zulegen, hinter der sie sich vor allzu intimen Fragen oder neugierigen Blicken verbergen können. Eine alternative Strategie bedeutete den vollständigen Rückzug aus dem öffentlichen Leben, wie er bei Künstlern aller Art beobachtet werden kann, denen der Trubel um ihre Person zu groß wird. Verlischt das Rampenlicht, kehrt die scheue, private Person zurück ans Licht der Welt. Die Vorraussetzungen, die ungeschminkte Wahrheit über Hilde Domin im Film zu Gesicht zu bekommen, waren, durch die Methodik von Ditges begünstigt, nahezu ideal. Keine der Szenerien wurde aufwändig geplant oder künstlich ausgeleuchtet, um gleichsam ein gutes Licht auf die alte Dame der Literatur zu werfen. Nicht uneitel, bezeichnenderweise fast immer geschminkt, quittierte diese ein zu aufdringliches Verhalten der Kamera mit schroffer Zurückweisung, aktivierte ihre alten Verhaltensmuster und ließ den Befehl, die Kamera sofort auszuschalten, ergehen. Gegen diesen Wunsch verstoßend, lief das Band jedoch weiter und konnte so den Weg in den Film finden. Letzteres versteht sich zudem nicht von selbst. Bei zwei Jahren Drehzeit kam eine Menge Filmmaterial zusammen, aus dem sorgfältig ausgewählt werden musste.
Insofern erinnert „Ich will dich“ gleich in zweifacher Hinsicht an das französische Cinéma vérité der 60er Jahre. Die direkte Interaktion zwischen dem Filmteam, in dem Falle in Personalunion Anna Ditges, und dem Betrachtungsobjekt durchbricht die ansonsten gewohnte erzeugte Illusion des stillen, teilnahmslosen Beobachters. Die Kamera, und die Tatsache, dass gerade ein Dokumentarfilm gedreht wird, soll dem Betrachter damit permanent ins Gedächtnis gerufen werden, eine Reflexion über das Medium Film angeregt werden und im Film selbst stattfinden. Das zweite, mehr formale und technisch bedingte Kennzeichen, das den Erstling von Ditges mit der vergangenen ästhetischen Strömung verbindet, sind die starken Bildkontraste und die „natürlichen“ Bewegungen der Kamera. Die Arbeitsweise des Cinéma vérité fordert von der Technik größtmögliche Flexibilität ab, da spontan in nahezu jeder Situation, unabhängig von den Lichtgegebenheiten, gedreht werden können muss. Hohe Lichtempfindlichkeit des Aufnahmematerials/Chips bei gleichzeitiger schneller Verschlusszeit haben die harten Kontraste, verminderte Farbtreue und –umfang und verändertes Rauschverhalten zur Folge. Gewonnen wird ein authentischer, realistischer Eindruck des Gezeigten.
Das in der Anlage latent subversive Verfahren, das die Kinoillusion zerstören sollte, verhindert es nun im Fall von „Ich will dich“ keineswegs, in den Film einzutauchen, sich mitreißen zu lassen von der faszinierenden Lebensgeschichte von Hilde Domin, die, noch vor dem Ersten Weltkrieg geboren, den Zweiten auf ihren Irrfahrten im Exil erlebt hat, ihren Weg zur Kunst fand, deren Erinnerungen voll sind von einem erfüllten Leben voller Schmerz und Freude. In jeder Begegnung zwischen ihr, Anna Ditges, alten Freunden, einfachen Passanten oder Bewunderern taucht eine neue Facette ihrer Persönlichkeit auf, die zu fesseln weiß. Der enorm große Altersunterschied zwischen der Porträtierten und Ditges, deren vertrautes Verhältnis irgendwo zwischen Freundschaft und dem zwischen Enkelin und Großmutter liegt, förderten gewiss eine offene Ehrlichkeit zu Tage, die mit jeder Filmminute mehr spürbar wird. Ganz besondere Momente hält der Film in der Form bereit, dass man der Altmeisterin der Lyrik bei der Arbeit wortwörtlich über die Schulter schauen kann, während sie Gedichte schreibt. Diese Augenblicke sind, wie die Schriftstellerin selbst bekundet, nicht planbar, da sie sie überkommen, wie Momente erotischer Erregung.
Lyrik und Kunst ganz Allgemein waren im Leben von Hilde Domin feste, fast existentielle Bestandteile. Als solche tauchen Gedichte regelmäßig in „Ich will dich“ auf, eingeflochten in die Erzählungen und Reflexionen der Hauptfigur. Die angedeuteten Analogien zwischen Gedichten und Leben der Autorin wirken manches Mal ein wenig platt, reduzieren die gedichteten Zeilen auf bloß verarbeitete Erlebnisse. Gewiss zählt die Aufgabe, Lyrik in einem organischen Zusammenhang in einen Film einzuarbeiten, mit zum Schwierigsten, da man mit (bildlichen) Assoziationen arbeiten muss und automatisch Sinngehalte reduziert. Ein Rezept wie man Kunst begegnet und mit ihr umgeht, gibt es ohnehin nicht, und wird, als Frage des Geschmacks, immer eine Streitfrage bleiben. Letztlich harmonieren die zitierten Verse immer mit der Stimmung und runden das intime Portrait, das Anna Ditges von Hilde Domin geschaffen hat, ab.