Gerade wenn es um die Abbildung der Wirklichkeit geht, sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. In den letzten Jahren gab es gleich eine ganze Reihe von Dokumentarfilmen, deren Themen zumindest als ungewöhnlich zu bezeichnen sind. In „Fuck“ erkundete Steve Anderson Ursprünge und Verbreitung des titelgebenden Ausdrucks, der die Herzen aller amerikanischer Moralwächter mehr als alles andere erzürnen lässt. In „The Aristocrats“ ließ Paul Provenza ein und denselben Witz von 100 Prominenten erzählen und ging so jeder erzählerischen Nuance des extrem anzüglichen Jokes auf den Grund. In Super Size Me ernährte sich der Filmemacher Morgan Spurlock einen Monat lang ausschließlich von Fast Food, was beinahe zu einem bleibenden Nierenschaden führte – in seiner neuen Doku macht Spurlock übrigens Jagd auf Osama Bin Laden, was wohl keinen Tick weniger grenzdebil ist. Doch keine dieser Ideen erscheint auf den ersten Blick so absurd wie die des erfahren Dokumentarregisseurs Hartmut Bitomsky: Das Thema seines neuesten Projekts ist so simpel wie übergeschnappt, beschäftigt er sich doch 94 Minuten lang mit dem wohl unpopulärsten Sujet, das man sich überhaupt vorstellen kann: Staub!
„Staub“ handelt von Staub – in all seinen Formen und Gestalten. Vom kleinen, unbedeutenden Korn bis zur ausgewachsenen Fluse. Von der lästigen, immer wiederkehrenden, einfach unbesiegbaren Schmutzschicht auf der geerbten Vase bis zum begehrten, alternativen Kunstobjekt. Staub ist universell – aus ihm ist das Universum hervorgegangen und zu ihm werden wir nach unserem Ableben zerfallen. Staub hat etwas Mystisches und zugleich auch etwas durch und durch Profanes an sich – sowohl Astrophysiker als auch Putzkolonnen beschäftigen sich jeden Tag mit ihm. Es gibt Flusen-Fans, die Staub sammeln und in kleinen Kunststoffboxen bewahren. Es gibt Wissenschaftler und Computerchiphersteller, die mit allen erdenklichen Mitteln gegen Staub vorgehen, um reine Räume und Laboratorien zu schaffen. Staub, der nach den Terrorakten vom 11. September aus den einstürzenden Twin Towers hervorgestiegen ist, hat im Nachhinein tausende von freiwilligen Helfern krank gemacht – ohne dass ihnen hierfür von der US-Regierung die nötige Unterstützung bewilligt wurde. Im Irak vergiftet unterdessen radioaktiver Staub, der von amerikanischen, in der Erde verborgenen Urangeschossen abfällt, langsam das Grundwasser.
Man kann sich nur schwer vorstellen, wie ein Regisseur in das Büro seiner Geldgeber spaziert und ihnen ernsthaft vorschlägt, doch einmal einen Dokumentarfilm über Staub zu drehen. Da scheint es im ersten Moment mehr Sinn zu machen, dass Geld einfach gleich zu verbrennen – so wärmt es zumindest ein wenig. Doch Hartmut Bitomsky ist - zum Glück! – anerkannt (immerhin ist er seit 2006 Direktor an der Deutschen Film und Fernsehakademie Berlin) und verrückt genug, um auch ein solch abwegiges Projekt durchzuboxen. „Staub“ ist ein mutiges Unterfangen, das sich für den Filmemacher jetzt schon ausgezahlt hat. Abgesehen von der überzeugenden Qualität darf es nämlich durchaus schon als Erfolg bezeichnet werden, das der Filmverleih Real Fiction die vom Schweizer Fernsehen, Arte und dem WDR Co-produzierte Doku vor ihrer Fernsehauswertung erst einmal in die deutschen Kinos bringt. Und obwohl ein durchschnittliches Staubkorn einen Durchmesser von gerade einmal einem Zehntel Millimeter hat, ist die große Leinwand doch genau der richtige Ort für den Film.
Formal ist „Staub“ ein bis in die letzte Faser klassischer Dokumentarfilm. Hippe Schnitte, aufwändige Computeranimationen, überhaupt alle Anflüge von Infotainment sucht man vergebens. Stattdessen erweist sich Bitomsky als fleißiger Rechercheur – er hat für seinen Film unzählige Spielarten des Staubs zusammengetragen, fast so, als ob er alle 8.360.000 Google-Treffer zum Thema einzeln durchgegangen wäre. Dabei wechseln die Beobachtungen immer wieder zwischen einer mystisch-philosophischen und einer weltlich-alltäglichen Perspektive. Kosmischer Staub steht für das überirdische, nicht greifbare, vielleicht sogar für den tieferen Sinn. Goldstaub hingegen hat eine restlos irdische Qualität – er steht für weltlichen Reichtum und Glanz. Obwohl die einzelnen Episoden gänzlich unaufgeregt und ohne erkennbare dramaturgische Steigerung daherkommen, entwickelt sich schnell ein eigentlich unerklärlicher atmosphärischer Fluss, der den Zuschauer erbarmungslos mitreißt. Die Faszination des Alltäglichen springt von der Leinwand auf das Publikum über. Und im Anschluss an den Kinobesuch sieht man seinen altgedienten Staubwedel garantiert mit völlig neuen Augen.
Fazit: Staub ist nervig, öde, dreckig, erregt Krankheiten und Allergien, treibt Hausfrauen in den Wahnsinn – hat schlicht und einfach keinen besonders guten Ruf. Geht man allein vom Sujet aus, würde man sich wohl hundertmal lieber eine Doku über etwas Erfreuliches wie Zuckerwatte, Dauerlutscher oder Kettenkarusselle reinziehen. Doch Hartmut Bitomsky gelingt das Kunststück, den Zuschauer von seiner staubigen Leidenschaft zu überzeugen. Sein dokumentarisches Essay entwickelt einen unerwarteten Sog, der „Staub“ zu einem überraschend lohnenswerten Kinoerlebnis werden lässt.