Sandrine Bonnaire zeichnet in ihrer ersten Regiearbeit „Ihr Name ist Sabine“ ein sehr persönliches dokumentarisches Porträt ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Sabine und erzielt mit einfachen Mitteln große Wirkung. Die aus Filmen wie „Die Verlobung des Monsieur Hire“ und „Biester“ sowie als Jacques Rivettes „Johanna, die Jungfrau“ bekannte Schauspielerin stellt den aktuellen Aufnahmen der an einer Autismus-Erkrankung leidenden Sabine immer wieder private Videos mit der Schwester aus den Achtzigern und Neunzigern gegenüber. Aus der Vergangenheit blickt uns eine vitale junge Frau mal neckisch, mal herausfordernd an, während die Augen der nun 38-Jährigen kaum noch Kontakt suchen und sich ihr Blick im Nichts zu verlieren scheint. Die Krankheit und vor allem ein fünfjähriger Psychiatrieaufenthalt haben Sabine tief gezeichnet. Die Konfrontation der Erinnerungsbilder mit der Gegenwart, die den ganzen Film hindurch immer wieder aufgegriffen wird, bezeugt eine bestürzende Veränderung. Mit „Ihr Name ist Sabine“ formuliert Sandrine Bonnaire so nicht nur eine Kritik des französischen Gesundheitswesens, sondern wirft weitergehende, grundsätzliche Fragen auf.
Wie der Titel schon nahelegt hat „Ihr Name ist Sabine“ eine eindeutige Hauptfigur. Die berühmte Schauspielerin ist dagegen in ihrem Film zwar immer präsent, aber kaum zu sehen. Meist richtet sie selbst die Kamera auf ihre Schwester und zeigt diese in ihrem Umfeld, einer betreuten Wohngruppe in der Charente. Sandrine filmt Sabine bei gemeinsamen Unternehmungen mit Pflegern und Mitbewohnern: Bei der Gartenarbeit und im Schwimmbad, beim Essen und Musizieren, beim Einkaufen und Geburtstagfeiern. In der Privatheit von Sabines Zimmer versucht Sabrine ihre Schwester zum Erzählen zu bringen, aus dem Off stellt sie gezielte Fragen. Wichtiger als perfekte Kadrierung und hundertprozentige Bildschärfe ist der Regisseurin dabei stets der Moment der Interaktion, so wird sowohl die immer noch aufblitzende große Vertrautheit der Schwestern wie auch die häufig fehlschlagende Kommunikation eingefangen. Wenn Sabine in langgezogenem Singsang immer wieder ihre Frage wiederholt: „Kommst Du mich morgen auch wirklich besuchen, Sandrine?“, obwohl ihr dies schon mehrfach versichert wurde, ist dies eben nicht nur ein Symptom. Hier zeigen sich zugleich die Sehnsucht nach Nähe und die Unfähigkeit, auf andere einzugehen. Diese Zerrissenheit ist gerade deshalb todtraurig, weil sie nicht hoffnungslos ist.
Vom besonderen Verhältnis der Geschwister zeugen die alten Urlaubs- und Familienvideos, die Sandrine von der Schwester in gesünderen Zeiten aufgenommen hat, diese Szenen begleitet die Regisseurin mit kurzen eigenen Schilderungen der Vorgeschichte. In dieser etappenweise fortgeschriebenen Biographie gibt es einen klaren Einschnitt, einen blinden Fleck: Sabines Jahre in der Psychiatrie bleiben ohne Bilder. Eine lange Einstellung einer schwarzen Leinwand mit der Einblendung „Fünf Jahre eingesperrt“ reicht, um das Unausgesprochene und das Ungeheuerliche auf den Punkt zu bringen. Die medizinische Einordnung von Sabines Krankheitsbild – die Diagnose lautet nach langem Rätselraten: Psycho-infantil mit autistischen Verhaltenszügen – verbindet die Regisseurin mit einer beschämenden Bestandsaufnahme der Betreuungssituation für psychisch Kranke durch den französischen Staat. Es ist privater Initiative und nicht zuletzt der Berühmtheit des Filmstars Sandrine Bonnaire zu verdanken, dass nach der verheerenden Klinikerfahrung endlich ein angemessener Platz für Sabine gefunden wurde. Das Umfeld und insbesondere das Engagement des Personals erscheinen im Film als fast optimal, umso bedauerlicher, dass sich dies nur Privilegierte leisten können.
Autismus, so definiert es Sabines Ärztin im Film unter anderem, ist die vorübergehende Unfähigkeit, mit anderen zusammenzuleben. Die Betroffenen neigten dazu, sich rein körperlich auszudrücken, Gefühle auszuagieren. Diesen Gedanken hat Sandrine Bonnaire verinnerlicht, sie lauert geradezu auf die kleinen Gesten, die Regungen und Bewegungen ihrer Schwester und spürt ihren Bedeutungen nach. Als Schauspielerin ist Sandrine dieses Nach-Außen-Tragen als darstellerische Technik natürlich vertraut. Wer mit dem Blick für diese gemeinsame Ausdrucksstärke die große Ähnlichkeit der Schwestern in jungen Jahren sieht, den kann ein Schwindelgefühl ergreifen. Während die eine mit Pialats „Auf das, was wir lieben“ und Agnès Vardas „Vogelfrei“ Césars gewann und eine bis heute erfolgreiche Karriere startete, ist die andere inzwischen kaum noch wiederzuerkennen, was mit der Floskel von der Laune des Schicksals nur annäherungsweise beschreibbar ist. Entsprechend glaubt Sandrine auch, dass Sabine den Bildern der Vergangenheit nicht gewachsen ist, als die Schwester beim Betrachten der Aufnahmen eines gemeinsamen USA-Urlaubs vor fast 15 Jahren in Tränen ausbricht. Aber Sabine versichert, dass sie vor Freude weine. Mit der Zusammenführung der beiden Zeit-Ebenen am Ende des Films erzielt Sandrine Bonnaire nicht nur eine starke emotionale Wirkung, sondern sie gibt Sabine im übertragenen Sinne die Kontrolle über die Bilder und ihre Geschichte.
Die Balance von Nähe und Distanz, von auf das Allgemeine zielender Beispielhaftigkeit und einem überzeugenden Beharren auf Individualität, wird von Bonnaire auf beinahe wundersame Weise gehalten. Gewaltausbrüche, Schimpftiraden und Momente körperlicher Schwäche werden nicht ausgespart, aber auch nicht ausgeschlachtet. Die fast amateurhaft anmutende Schlichtheit von „Ihr Name ist Sabine“ hat dabei nichts mit fehlendem Formbewusstsein zu tun. Sie bildet vielmehr den Resonanzboden für eine bisweilen fast unerträgliche Eindringlichkeit. Gegenüber diesem von Schmerz und Liebe durchwirkten Dokument grausamer und räselhafter zeitlicher Distanz haben die digitale Perfektion, mit der Brad Pitt in Der seltsame Fall des Benjamin Button die Lebenslinien ins Geschicht geschrieben werden und die Hollywood-Dramaturgie von Rain Man etwas beruhigend Berechenbares.