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    Coffee Beans for a Life
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Coffee Beans for a Life
    Von Christian Horn

    Der Begriff Heimat wird immer mehr zu einem abstrakten Konstrukt, zu einer persönlichen Definitionssache für jeden Einzelnen. Letztlich ist es der Ort oder der Mensch, bei dem man sich „zu Hause“ fühlt – wobei dieses Gefühl für jeden etwas anderes bedeutet und eine andere Wichtigkeit hat. Im Leben des 84-jährigen Norman Salsitz spielt die Heimat eine wesentliche Rolle. Als Jude wurde er während dem Zweiten Weltkrieg in seiner Geburtstadt Kolbuszova im südöstlichen Polen verfolgt, ins Ghetto gesperrt und musste schließlich in die USA emigrieren. Auch wenn er mehr als doppelt so lang in Amerika gelebt hat wie in Polen, meint er Kolbuszova, wenn er von Heimat spricht. Nach fast sechzig Jahren kehrt er in seine Heimatstadt zurück, mit der ihn viele schmerzliche und prägende Erinnerungen verbinden. Begleitet wird er von seiner Tochter, seinen drei Enkeln und dem Drehteam um Regiseurin Helga Kirsch, das diesen wichtigen Moment im Leben Salsitzs in der Dokumentation „Coffee Beans For A Life“ auf Kamera festgehalten hat.

    In den etwa 90 Minuten bringt Helga Kirsch, die Norman Salsitz in vorangegangenen Gesprächen kennen gelernt und das Drehbuch geschrieben hatte, uns die Persönlichkeit ihres Protagonisten näher, ohne dabei den Blick zu beschönigen. Sie lässt nur die beteiligten Personen zu Wort kommen und gibt ihrer Kamera keine wertende Rolle. So wird der Zuschauer zum Beobachter, der sich sein eigenes Bild über das Gezeigte und die Gezeigten bilden muss. Das wird besonders deswegen interessant, weil Salsitz sicherlich kein komplett positiv zu bewertender Charakter ist. Er hat Ecken und Kanten, scheint sich an vielen Stellen selbst inszenieren zu wollen und ist vor allem recht verbittert. Besonders deutlich wird das in der Szene, als er seinen Enkeln das alte Haus zeigen will, in dem er vor dem Krieg mit seiner Familie lebte. Dort wohnt mittlerweile eine andere Familie, deren Familienvater – wohl nicht ganz unverständlich – etwas verdutzt reagiert, als das komplette Drehteam unangekündigt in sein Haus kommt. Als er dem lamentierenden Salsitz verweigert, das Haus mit Kameras zu betreten, reagiert dieser sehr offensiv, erzählt von seinen Reichtümern in Amerika und dass er alles dafür tun wird, der Familie das Haus abzunehmen. Letztlich geht die Familie auf Salsitz zu und gewährt ihm am nächsten Tag einen Blick in das Haus.

    In dieser Szene kulminiert wohl auch die Angst, die Salsitz vor der Rückkehr in seine Heimat hatte – die Angst vor einer feindlichen Aufnahme und dem Überschwang der Gefühle, die er empfinden würde. Nicht nur deswegen ist die Verbitterung Salsitzs (er selbst nennt es „Groll“) verständlich, wenn man bedenkt, welches Leid er in Kolbuszova erfahren hat: Hier wurde seine ganze Familie ermordet, seine erste Liebe erschossen und er selbst musste zwei Jahre in den Wäldern leben, wo polnische Bauern zwei Treibjagden auf die versteckten Juden organisierten, um an vermutete Reichtümer zu gelangen; als Salsitz eines Tages in das Versteck im Wald kam, fand er dort die Kameraden mit gespaltenen Schädeln. Und er hat in Kolbuszova Schuld auf sich geladen, wurde von der Opfer- in die Täterrolle gezwungen, als er den Bruder eines Schulkameraden erschießen musste, um zu überleben. Dieser hatte nämlich für den polnischen Untergrund gekämpft und den Auftrag Salsitz zu töten, da die Untergrundkämpfer befürchteten, von den Juden an die anrückenden Sowjet-Soldaten verraten zu werden. Obwohl das Wappen Kolbuszovas das einzige in Polen mit einem Kreuz für die Polen und einem Davidstern für die Juden ist, arbeiteten beide Parteien nicht wirklich zusammen, um den gemeinsamen Feind zu bekämpfen. Salsitz wollte immer als polnischer Jude anerkannt werden, blieb aber stets ein Jude in Polen. Trotz der Gefahr deportiert zu werden, halfen aber auch einige der polnischen Einwohner den Juden, gewährten ihnen Unterschlupf, gaben ihnen Essen und versorgten die Wunden der Verletzten. Das versöhnliche Ende zeigt Salsitz mit der Schwester einer Frau, die ihm damals das Leben gerettet hatte. Gemeinsam singen sie ein Lied und die jüdisch-polnische Symbiose, die Norman Salsitz sein Leben lang vermisste, wird für einen kurzen Moment Realität.

    Das Besondere an Helga Kirschs Dokumentarfilm ist, dass die Regisseurin einen schon oft thematisierten Teil der Geschichte durch Menschen lebendig werden lässt. Die stummen Zahlen und Fakten, die Daten und historischen Thesen werden zu greifbaren, wahrhaftigen Schicksalen. Und dabei gelingt es Kirsch, weit entfernt vom Zeitzeugenpathos eines Guido Knopp, der nur allzu oft die Äußerungen seiner Zeugen eins zu eins in historische Tatsachen überführt, dem Publikum einen Menschen vorzustellen, ohne ihn zu idealisieren oder in irgendeiner Weise zu bewerten – das darf der Zuschauer in anspruchsvollen Dokumentarfilmen nämlich noch selbst. Somit ist Helga Kirsch ein stiller, wahrhaftiger und stellenweise ergreifender Film gelungen, zum Beispiel, wenn Salsitz die Stelle aufsucht, an der sein Vater von den Deutschen erschossen worden ist und seiner Tochter und seinen Enkeln (deren Fehlen dem Film übrigens nicht geschadet hätte) von den Geschehnissen berichtet. Salsitz kann sich seinen Erläuterungen nach bis ins kleinste Detail erinnern, aber wie gesagt steht es dem Zuschauer frei, sich sein eigenes Urteil zu bilden.

    Eine Stelle des Films, die sehr berührt und die schmerzvollen Erinnerungen Norman Salsitzs greifbar formuliert, ist die mit den titelgebenden Kaffeebohnen. Salsitz sollte erschossen werden, sein Grab hatte er schon selbst schaufeln müssen. Im letzten Moment ging er einen Handel mit dem kommandoführendem SS-Soldaten ein und an seiner Stelle wurde nun ein anderer erschossen. Salsitzs Leben war für den Moment gerettet – er hatte es gegen 25 Kilo Kaffeebohnen eingetauscht.

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