Zwei Personen aus völlig unterschiedlichen sozialen Verhältnissen verlieben sich ineinander. Aus Angst davor, von ihm zurückgewiesen zu werden, verschweigt sie ihm ihre Herkunft, was natürlich Folgen hat. Bei einem Film mit diesem Kurzinhalt müsste man bei einer Produktion aus Hollywood mit einer – meist eher mäßigen – romantischen Komödie mit ein paar Irrungen und Wirrungen rechnen, der x-ten Variation des „Cinderella“-Themas eben. Der irakischstämmige Schweizer Regisseur Samir geht völlig anders an das Thema heran. Dass bei ihm nicht die Frau aus armem, sondern reichem Hause ihre Herkunft verbirgt, ist die eine Neuerung. Auch ist sein „Snow White“ weit entfernt von einem lockeren, romantischen Unterhaltungsfilm, sondern vielmehr ein hartes Drama. Mit diesen guten Ansätzen hört es allerdings leider fast auf, denn das Gesamtprodukt ist dann doch eine Enttäuschung.
Paco (Carlos Leal) ist Musiker aus Frankreich. Er hat sich seinen Jugendtraum erfüllt: Musik machen mit seinen besten Freunden und damit durch die Welt touren. Ihm ist vor allem die Botschaft seiner Lieder wichtig, das Geld zweitrangig. Damit entfernt er sich von seiner Band, die dank einer Nummer-1-Single nun Geld regnen sieht und das nächste Video trotz Text über das arme Leben in einem Banlieue an einem Luxuspool mit heißen Models drehen will. Noch mehr stört es Paco, dass der nächste Auftritt in der Züricher Nobeldisco des arroganten Boris (Stefan Gubser, Grounding - Die letzten Tage der Swissair), genau vor dem Publikum, welches er am meisten verabscheut, stattfindet: Nur reiche Schnösel, die nur den tanzbaren Tophit hören wollen. Doch in dieser Disco begegnet er zum ersten Mal „Schneewittchen“ Nico (Julie Fournier) und von beiden Seiten sprühen die Funken. Nico ist eigentlich genau das, was Paco verabscheut. Mit reichen Eltern ausgestattet, die beide denken, dass Geld jede Art von Liebe und Zuwendung ersetzen kann, verbringt sie ihre Zeit auf Partys, in der Disco, im Bett von Boris oder am Pool, immer die nächste Linie Koks in Griffweite. Nur ihr Schauspielprojekt unter einem exzentrischen Regisseur (Stefan Kurt, Große Mädchen weinen nicht) schert aus dem typischen „Goldküsten-Chick“-Leben aus. Das Zusammentreffen mit und die Liebe zu Paco ist der Anfang ihres Abstiegs…
Man muss Samir und seinem Co-Drehbuchautor Michael Sauter (Achtung, fertig, Charlie!, Grounding - Die letzten Tage der Swissair) zugute halten, dass sie es wirklich versuchen, einen frischen, gleichzeitig realistischen Film zu drehen und auf die klassische Hollywood-Dramaturgie verzichten. Das fängt schon damit an, dass der Zusammenstoß zwischen Paco und Nico, der zur Offenlegung ihrer wahren Herkunft und natürlich zur erstmaligen Trennung führt, nicht die Klimax am Ende des Films bildet, sondern schon sehr früh stattfindet, um den Raum für viele weitere Storyentwicklungen zu schaffen. Doch hier zeigt sich schon ein Problem des Films. Es werden viel zu viele Storylinien aufgerissen, die der Film am Ende gar nicht alle befriedigend auflösen kann.
Auch ist die „Offenlegungs“-Szene ein hervorragender Beweis für die schwankende Qualität von „Snow White“. Auf der einen Seite wird dort wunderbar Pacos Weltbild demaskiert. Der hat seine feste Welteinteilung von Gut (arme Arbeiter) und Böse (reiche Kapitalisten) und ist in dieser Sicht so borniert und festgefahren, dass er keine Zwischentöne erkennen kann. Wer Geld hat, gehört für ihn automatisch zur falschen Seite und führt dort ein unbeschwertes Leben. Dass Nico in diese Welt hineingeboren wurde, also zumindest für ihre Herkunft nichts kann, vermag er nicht zu verstehen und dass sie Probleme hat, kann er nicht begreifen, sie später, nicht lösen. Auf der anderen Seite zeigt sich in dieser Szene auch eine der größten Schwächen des Films. Die emotionalen Momente funktionieren allesamt nicht und lassen den Zuschauer mehr als kalt. Das wird schon hier offensichtlich, verstärkt sich später noch mehr, wenn dramatisch Gedachtes, selbst Todesszenen, einfach nur langweilen.
In starkem Zusammenhang dazu steht ein großer Fehler beim Casting. Für die Hauptrolle wollte man anscheinend unbedingt die Französin Julie Fournier haben. Problem daran: Sie spielt den deutschsprachigen Part der Schweizerin in der Geschichte, kann aber nur Französisch. Also hat man mit der Schweizerin Fabienne Hadorn gleich noch jemanden für die Synchronisation der Rolle verpflichtet. Leider wurde hier zusätzlich geschlampt. An Lippensynchronität fehlt es oft, einzelne Passagen wirken einfach nur aufgesagt. Das setzt sich auch bei anderen Rollen fort. Ein ähnlicher Patzer ist die Besetzung von Liliana Heimberg und Wolfram Berger bzw. die Ausgestaltung ihrer Rollen, zumindest in der in Deutschland laufenden synchronisierten Fassung des Films. Die beiden spielen das bürgerliche Elternpaar von Nicos bester Freundin und werden ohne ihr Wissen von ihr gegenüber Paco als ihre eigenen Eltern ausgegeben. Damit standen die Drehbuchautoren allerdings vor dem Problem, dass dies nur funktionieren kann, wenn Paco das Gerede der angeblichen Eltern nicht versteht. Er spricht aber Deutsch. Also müssen die Eltern einen für Paco unverständlichen Dialekt sprechen. Laut Erklärung im Film soll das Ergebnis ein Schweizer Vorstadtdialekt sein, es klingt allerdings eher wie eine komisch-peinliche Mischung aus Schwäbisch und Österreichisch. In der originalen schweizerdeutschen Fassung soll die Problematik schlüssiger gelöst sein. Perfekt passt es da ins Bild des mäßigen Castings, dass bekannte Gesichter wie „Schattenmann“ Stefan Kurt oder Sunnyi Melles in kleinen, unbedeutenden Nebenrollen verheizt werden.
Ein Glanzstück ist dagegen die Besetzung der männlichen Hauptrolle mit Carlos Leal. Der erfolgreiche Genfer Musiker (in der Schweiz und in Frankreich mit der Band „Sens Unik“ sehr erfolgreich) und Schauspieler spielt eine Rolle, die deutlich an seine eigene Biographie angelegt ist. Leal, der demnächst auch in James Bond 007 - Casino Royale einen kleinen Auftritt haben wird, agiert dabei überzeugend und schafft es als Einziger aus dem gesamten Cast beim Zuschauer Emotionen zu erzeugen. Die Verwendung von „Sens Unik“-Songs im Film, die Leal dann auch selbst vortragen kann, sorgt für Authentizität.
Leider nützt dies dem Film wenig. Während Samir am Anfang noch darauf setzt, die Geschehnisse wechselseitig aus den Blickwinkeln beider Protagonisten zu schildern (teilweise unterlegt mit Off-Kommentar von diesen), schwenkt er in der zweiten Hälfte fast ausschließlich auf Nico um. Er portraitiert nur noch ihren gnadenlosen Abstieg aus der High Society in die Prostitution. Paco kommt nur eine Rolle als unheilvolles Fanal zu. Jedes Mal, wenn er für kurze Zeit (meist wie aus heiterem Himmel) bei Nico auftaucht, steigt diese danach eine weitere Stufe auf der Treppe nach unten herab. Pacos Kontroversen mit seinen Bandkollegen und seinem Vater (Teco Celio), die eingeführt werden und Raum für interessante Momente bergen, werden beiseite gelassen, um dann später noch – recht unbefriedigend – einer kurzen Auflösung zugeführt zu werden.
So passt das Finale perfekt ins Bild. Mit einer extrem kitschigen und unfreiwillig komischen Szene schließt Samir seinen Film ab. Er liefert damit dem Zuschauer noch einmal die Gewissheit, dass dieser einen Film mit guten Ansätzen und Ideen gesehen hat, die aber genauso verkorkst werden wie das „Märchen“-Ende unpassend für dieses so auf Realismus versierte Drama ist.