Eine programmatische Einstellung: Ein Boot fährt unter einer Brücke und ist nur im Schatten derselben zu erkennen. Als es die künstliche Verdunklung des Brückenschattens verlässt, wird es stufenweise erhellt – bis es schließlich gleißend weiß im Licht der Sonne erstrahlt. Licht ins Dunkel bringen, das ist die Motivation des Dokumentarfilmers Rex Bloomstein, der in „KZ“ das nationalsozialistische Konzentrationslager Mauthausen im Spiegel von Touristengruppen, Touristenführern und – ganz zentral – der Bewohner des nur zwei Kilometer entfernten Dorfes gleichen Namens porträtiert. An sich ist es keine Besonderheit, durch einen Dokumentarfilm Licht ins Dunkle bringen zu wollen; Bloomsteins Ansatz ist allerdings ähnlich innovativ und klug wie das eingangs beschriebene Bild. Der versierte Dokumentarfilmer verzichtet auf die übliche dramaturgische Zuspitzung der vielen Dokumentationen über die Gräuel der Konzentrationslager. „KZ“ kommt komplett ohne Archivmaterial von aufgebahrten, verstümmelten Leichen aus, spart die emotionale Verstärkung durch Musik aus, verzichtet fast völlig auf eine Litanei historischer Fakten und puscht Zeitzeugenberichte nicht zu spektakulären Oberflächenreizen. Bloomsteins Film bleibt in der alltäglichen Gegenwart und erhellt die Geschichte(n) Mauthausens dadurch umso eindringlicher.
Der Zuschauer beginnt den Film als Tourist. Inmitten eines anreisenden Busses fährt er in einer langen Plansequenz zum Lager, steigt aus und bekommt von einem Führer allerhand erzählt. Gemeinsam mit einer Schulklasse wandert er die verschiedenen Stationen ab, bis schließlich der Titel eingeblendet wird, unterlegt mit einem Off-Kommentar, der deutlich macht, dass der folgende Teil des Films ein umfassendes Bild liefern will. Und so kommt es dann auch: Bloomstein wechselt zwischen verschiedenen Besichtigungsgruppen mit unterschiedlichen Führern, befragt die Anwohner des idyllischen Dorfes Mauthausen – alteingesessene und zugezogene, junge und alte – und gibt dem Betrachter dadurch die Möglichkeit, sich aus vielen unterschiedlichen Perspektiven ein Bild zu machen. Dabei kehrt der Film immer wieder zu Harald Brachner zurück, einem Touristenführer des KZs, dessen Leben unwiderruflich mit dem Lager verstrickt ist. Jeden Tag macht er Führungen in Mauthausen und beschäftigt sich auch privat mit der Geschichte des Lagers. Das Wachrütteln der Besucher ist zu seinem persönlichen pädagogischen Feldzug geworden; sein Ziel ist es am Ende der Führung „alle zu bekommen“. Das aristotelische Prinzip: zum Nachdenken anregen durch Jammer und Schrecken. Durch die intensive Beschäftigung mit dem einzigen Lager der Kategorie III auf dem Boden des ehemaligen Dritten Reichs – Kategorie III, das heißt „Vernichtung durch Arbeit“ – ist Harald Brachner als Persönlichkeit nicht unbeschadet geblieben. Er ist mit der Zeit zum Alkoholiker geworden und sein Beruf wurde für ihn zur Berufung. Die Frage, wie er zur Zeit des Betriebs von Mauthausen selbst gehandelt hätte, lässt ihn nicht los. Wäre er zum passiven Beobachter geworden oder sogar zu einem Täter?
Denken und nicht Denken, Erinnern und Vergessen. Um diese Pole dreht sich der Dokumentarfilm. Bei der Befragung der Anwohner in Mauhausen bekommt Bloomstein die unterschiedlichsten Antworten: Eine alte Frau erzählt von ihrer wunderschönen Hochzeit im Lager, von der allgemeinen Begeisterung und den vielen SS-Männern in der Umgebung, aus denen man sich damals einen aussuchen konnte. Die unschönen Dinge, die in Mauthausen vor sich gingen, hat sie vergessen. Im Gegensatz zu einer anderen älteren Dame, die damals in der Nähe des Bahnhofs wohnte und daher nicht weggucken konnte, wenn die Häftlinge waggonweise antransportiert und brutal ins Lager getrieben wurde. Die allgemeine Verdrängungstaktik der Deutschen „von all dem nichts gewusst zu haben“, nimmt an einem Ort wie Mauthausen groteske Züge an. Der noch heute beliebteste Ort des oberösterreichischen Dorfes ist eine Gaststätte, in der zur Zeit des Lagerbetriebes die SS-Offiziere zum Essen und Trinken einkehrten und in dem heute ausgelassene, unbeschwerte Volksfeste gefeiert werden. Brachner weißt nicht ohne Sarkasmus darauf hin, dass der Wegweiser zum KZ nur etwa 50 Meter von demjenigen des Gasthauses entfernt steht und beide im gleichen Farbstil gehalten sind. Diese Spannung zwischen dunkler Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart macht den Reiz in Mauthausen aus, den Bloomsteins Film in unzählig vielen Momenten und mit viel Gespür für Details offen legt. Er zeigt Zugezogene, die ein altes SS-Haus bewohnen und das nicht weiter verwunderlich finden, Touristen, die sich vor den Verbrennungsöfen fotografieren, andere, die eine Rundführung im Lager als Sightseeing begreifen und schon auf Auschwitz gespannt sind. Er zeigt die betroffenen Gesichter in den Schulklassen, ein Mädchen, das vom Erzählten emotional aus der Bahn geworfen wird und lässt Harald Brachner von Hakenkreuzen erzählen, die auf die Gedenktafel geritzt wurden; und von Duschköpfen, die als Souvenirs aus der Gaskammer entwendet wurden.
Und bei allem Gezeigten bleibt Rex Bloomsteins ehrlicher und radikaler Dokumentarfilm erfrischend wertfrei. Lediglich in den Anfangsminuten scheint ein subtiler Michael-Moore-Anstrich durch, etwa wenn der Film von einer Schreckensgeschichte aus dem KZ-Rundgang auf die fröhlich feiernden Anwohner schneidet (und damit suggeriert, dass die Anwohner völlig unreflektiert mit der Geschichte aus ihrer Nachbarschaft umgehen). Was bleibt ihnen letztlich auch anderes übrig? Auch wenn die Reibung zwischen nationalsozialistischer Vergangenheit und Gegenwart in Mauthausen besonders stark ist, müssen sich die Anwohner dann intensiver mit der industriellen Massenvernichtung der Nazis auseinandersetzen als der Rest Deutschlands? Ist es schlimm, die Natur um Mauthausen herum schön zu finden und das Dorf als seine Heimat anzusehen, wenn Tausende dort ermordet wurden? Bloomsteins Film wirft viele Fragen auf, entwirft einen vielschichtigen Zusammenhang zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem und thematisiert die Auswirkungen des Gestern auf das Heute aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichen Zusammenhängen.
Der Dokumentarfilm versucht gar nicht erst, die unzähligen aufgeworfenen Fragen zu beantworten, was ihn von allem Prätentiösen befreit und zu abgebildeter Wirklichkeit werden lässt. Als Harald Brachner in den Schlussminuten die Türen der Besichtigungsstätte schließt und die Busse mit den Touristen abfahren, ist der Tag in Mauthausen zu Ende. Und der Zuschauer hat die Möglichkeit, mit dem Nachdenken und Reflektieren anzufangen – oder es zu lassen. Genau wie ein waschechter Mauthausener.