Ein Exorzismusfilm, der vor dem eigentlichen Exorzismus fast schon endet, ist etwas Außergewöhnliches. Das Drama „Requiem“ von Hans-Christian Schmid porträtiert den Leidensweg der Studentin Michaela, die glaubt, vom Teufel besessen zu sein.
„Dieser Film basiert auf einer wahren Begebenheit“, mit diesem Satz sieht sich der Kinogänger immer häufiger auf der Leinwand konfrontiert. Auch das Leiden der schüchternen Studentin basiert auf einem Fall, der Mitte der 1970er Jahre in Süddeutschland bekannt wurde. Die an Epilepsie leidende Michaela (Sandra Hüller) kommt aus einem erzkatholischen Familienhaus in Schwaben. Ihre Mutter (Imogen Kogge) leitet die Familie mit eiserner Hand und diktiert die Bedingungen. Michaelas Vater (Burghart Klaußner) hilft seiner Tochter nur heimlich, einen Platz im Wohnheim Tübingen zu bekommen, damit das schüchterne Mädchen sein Lehramtstudium aufnehmen kann. Im Wohnheim freundet sich die strenggläubige Michaela mit ihrer ehemaligen Schulkameradin Hanna (Anna Blomeier) an und lernt mit Stefan (Nicholas Reinke) auch die erste Liebe kennen. Allerdings machen ihr gesundheitliche Probleme zu schaffen: Sie hat trotz neuer Medikamente Anfälle und glaubt, Stimmen zu hören, die ihr verbieten, christlichen Symbolen nahe zu kommen. Zunächst schämt sie sich so sehr, dass sie sich ihren Freunden nicht anvertraut.
Stattdessen geht Michaela zu einem Pfarrer, der sie aber für eine Wichtigtuerin hält und ihre Visionen nicht ernst nimmt. Sein Kollege hat allerdings die Diagnose bereits in der Tasche: Diese Frau ist eindeutig vom Teufel besessen. Und weil Michaela durch ihre jahrelange Krankenhauserfahrung Ärzten nicht mehr traut, kommt es zur Tragödie. Sie setzt ihre Medikamente ab und vertraut sich den Gebeten des Gottesmannes an, den auch ihre Eltern schließlich unterstützen. Machtlos und zunächst auch ahnungslos stehen Stefan und Hanna daneben, während Michaela immer mehr die Kontrolle über sich verliert. Vielleicht wollen alle nur das Beste für das gequälte Mädchen, aber nicht jeder Weg der Hilfestellung kann Michaela wirklich retten.
Eigentlich möchte sie nur verdammt wenig: studieren, eigenständig sein und endlich die Epilepsie hinter sich lassen. Dennoch muss Michaelas Figur einen furchtbaren Leidensweg begehen, in dem falsche Diagnosen und das angeschlagene Verhältnis zu den katholisch fixierten Eltern wichtige Rollen spielen. Die ganze Situation von Michaela ist tragisch: Die meisten Kinder hätten bei einer solchen Mutter einen psychischen Knacks bekommen. Sie ist gegen das Studium der Tochter, da Michaela unter Epilepsie leidet und ihrer Meinung nach im Sündenpfuhl der Universität nicht allein zurechtkommt. Dennoch stimmt sie widerwillig einem „Probesemester“ zu, auch wenn sie die Eigenständigkeit ihrer Tochter in der Folge mit den miesesten Machenschaften torpediert. Durch die stetige Unterfütterung mit katholischer Heiligen-Geschichte interpretiert die junge Studentin ihre Probleme nur in eine bestimmte Richtung und lässt Ratschläge von Außenstehenden einfach verpuffen. Regisseur Hans-Christian Schmid, der mit dem meisterschaften Thriller „23“ bereits ein Stück wahre Begebenheit inszenierte, verdeutlicht die Willigkeit Michaelas, für ihre Religion zu leiden, eindrucksvoll schon in der ersten Szene seines „Requiem“. Da quält sich das Mädchen auf dem Fahrrad einen steilen Berg hoch, keuchend und abgekämpft erreicht sie die Kirche, um atemlos ein Gebet für die Aufnahme an die Universität zu sprechen. Von Anfang an steht sie zu ihrem Leidensweg. Newcomerin Sandra Hüller bringt diese Seite ihrer Figur deutlich hervor, entdeckt im Verlauf des Films aber vor allem ihr Talent, die chronischen Wutausbrüche und die Verzweiflung intensiv zu spielen.
Kein Wunder also, dass Sandra Hüller auf der Berlinale 2006 mit dem Preis als beste Schauspielerin bedacht wurde. Neben ihr verblasst auch der Rest des Ensembles. Vor allem die Darsteller der beiden Geistlichen folgen in ihrer Betonung und ihrem Spiel eher der Bühnentradition und stellen einen (vielleicht sogar gewollten) Bruch mit den restlichen Figuren dar. Regisseur Schmid sieht seinen neuen Film bewusst als Antithese zum Exorzismus von Emily Rose, der im Vorjahr die Teufelsaustreibung einer Besessenen dokumentierte. Beide Filme basieren auf dem Fall von Anneliese Michel aus dem Jahr 1976, interpretieren den Hintergrund aber unterschiedlich. Neben der Frage, ob es sich in Michaelas Fall um Besessenheit oder die Begleiterscheinungen der Epilepsie und den Uni-Stress sowie den Abnabelungsprozess von der Familie handelt, beschreibt der Film "Requiem" vor allem die Freundschaft zweier Mädchen, die sich beide bei ihren Eltern nicht mehr wohl fühlen. Trotz ihrer unterschiedlichen Erziehung und divergierender Einstellungen finden Hanna und Michaela einen Weg, füreinander da zu sein und sich in Krisenzeiten um die andere zu kümmern. Diese Verbundenheit stellt auch das Kernstück von „Requiem“ dar. Hanna zeigt Michaela eine neue Welt: Tanzpartys, coole Klamotten und andere Musik. Dafür schafft Michaela es, Hanna zum Durchstarten in der Uni zu bewegen und hilft ihr, ihre Motivation zu entdecken.
Vielleicht wedelt der Film etwas zu sehr mit dem Label „nach einer wahren Begebenheit“ und lässt es sich am Ende nicht nehmen, den moralischen Zeigefinger deutlich zu heben und das Schicksal der realen Vorlage für die Figur von Michaela noch mal zu betonen. Ansonsten aber ist „Requiem“ ein gelungenes Werk, welches ein kontroverses Thema mit einer angenehmen Inszenierung und einer herausragenden Hauptdarstellerin verknüpft. Auf jeden Fall ist „Requiem“ ein Beweis dafür, dass es mit dem deutschen Film im Jahr 2006 deutlich bergauf geht.