Kaum ein Filmemacher streift harsche Kritiken oder schlechte Einspielergebnisse einfach so ab, ganz gleich, wie dickhäutig er sein mag. Noch schwerer erträglich ist es allerdings, wenn ein Film nach Jahren intensiver Arbeit schlichtweg nicht gezeigt wird. Ein solches Los war Kenneth Lonergan mit seinem Coming-of-Age-Drama „Margaret" beschert. Der Film ging 2003 in Produktion, war nach einigen Drehstopps aber erst 2006 im Kasten. Eigentlich sollte er 2007 in die Kinos kommen. Dann jedoch brach ein erbitterter Streit zwischen Lonergan und dem Studio los: Der Regisseur hatte eine dreistündige Fassung im Sinn, während Fox Searchlight einen auf maximal 150 Minuten gekürzten Film verlangte. Da half nicht einmal, dass Hollywood-Legende Martin Scorsese Schnitthilfe leistete und bereits die Vorfassung als Meisterwerk bezeichnete. Beigelegt wurde der Konflikt 2009 vor Gericht, veröffentlicht wurde „Margaret" aber erst im September 2011 – mit einer Woche Spielzeit, verstreut über eine Handvoll US-Kinos. In Deutschland kam es noch ein Jahr später bloß zu einer DVD-Veröffentlichung. Eine traurige Geschichte! Denn „Margaret" verdient ein Publikum – und das Publikum verdient „Margaret". Auch in der „kurzen" Fassung ist Lonergans endlich aus der Entwicklungshölle entlassener Film nämlich ein außergewöhnlich lebensnahes, nuanciertes und vor allem wunderschönes Drama.
Eigentlich wollte die 17-jährige Schülerin Lisa Cohen (Anna Paquin) bloß einen schicken Hut in Downtown Manhattan auftreiben. Eben so einen, wie ihn Busfahrer Gerald Maretta (Mark Ruffalo) trägt, dem sie von der Straßenseite aus zuruft, wo er das gute Stück wohl erstanden hätte. Sie konnte ja nicht ahnen, dass Maretta dank ihres unschuldigen Flirts eine rote Ampel verpassen würde. Einen schrecklichen Augenblick später verstirbt die dabei angefahrene Fußgängerin (Allison Janney) in den Armen der panischen Lisa. Dass die Busgesellschaft Maretta nach einem knappen Prozess wieder auf die Straße lässt, kann sie weder verstehen noch hinnehmen. Lisa kontaktiert daraufhin nicht nur die Hinterbliebenen, sie stellt gleich noch den Unfallfahrer selbst vor seiner eigenen Haustür und Familie zur Rede. Dabei ist das Erwachsenwerden auch so schon stressig genug: Das Liebesleben ihrer Mutter Joan (J. Smith-Cameron) hängt schief, ihr erstes Mal mit Schulkumpel Paul (Kieran Culkin) war eher ein Unfall und ob sie Lehrer Aaron (Matt Damon) nun lieber mit eigensinnigen Shakespeare-Deutungen aus der Fassung bringen oder doch Kraft ihrer erwachenden Weiblichkeit becircen soll, ist ebenfalls reichlich unklar...
Ein zweieinhalbstündiges Epos, nur um die Adoleszenzwirren einer 17-Jährigen abzuwickeln? Ganz richtig – und das ist hier immernoch zu wenig! Denn wenn es einen peinlichen Irrtum im Umgang des Mainstream-Kinos mit jungen Frauen gibt, dann vor allem diesen: Dass es bloß gilt, die Irrtümer der Jugend auszuräumen, um erwachsen zu werden. Und auch diese Grenzziehung – erwachsen – ist nicht selten noch recht willkürlich. Es ist Lonergan nicht hoch genug anzurechnen, mit welcher Geduld er den alltäglichen Leidens- und Liebesweg seiner Protagonistin nachvollzieht und wie empathisch er ihre vielen Facetten ergründet. Ja, auf den ersten Blick ist Lisas sprunghaftes Verhalten immer wieder schwer verständlich, gelegentlich auch schwer erträglich. Und genau das ist der zentrale Punkt des Films: Junge Menschen, Menschen überhaupt, sind komplexe, widersprüchliche Wesen. Lisa ist zuneigungsvoll und abweisend, clever und naiv, abhängig und manipulativ, bodenständig und abgehoben, erwachsen und kindisch zugleich. Ganz zu recht vertrat Lonergan mit seinem Kampf um die Schnittfassung die Position, dass es Zeit braucht, um so etwas erzählerisch greifbar zu machen.
Eine der vielen besonderen Qualitäten von „Margaret" ist, dass all dies nicht nur auf Lisa zutrifft, auch wenn ihr als Protagonistin Lonergans größte Aufmerksamkeit gilt – ausnahmslos alle Figuren bekommen hier Tiefe verliehen, bis hin zu Mama Jeans Lover (sensibel: Jean Reno) und den Hinterbliebenen des Bus-Unglücks. Damit finden ungeheuer viele Stimmungen Platz in „Margaret", teilweise zugleich. Wenn Paul kaum damit klarkommt, nur ein amouröses Versehen gewesen zu sein, und nach einem im Prinzip trivialen und doch enttäuschenden Telefonat mit seiner Angebeteten Lisa schluchzend auf seinem Bett zusammensinkt, wirkt das ein wenig hysterisch und auch ziemlich komisch. Gleichzeitig aber ist der leise Gefühlsausbruch dabei so authentisch und berührend, dass man gleich selbst eine Träne wegblinzeln könnte. Das gilt insbesondere auch für die Szenen, in denen Lonergan das hitzige Verhältnis zwischen Lisa und ihrer Mutter schildert. Wenn sie sich schreiend gegenseitig vorwerfen, einander nie aufmerksam genug zuzuhören, haben beide Recht – und sind zugleich auch beide furchtbar egoistisch.
Auf einen übergreifenden Spannungsbogen verzichtet Lonergan, stattdessen entwickelt er jede Szene und jeden Stimmungsumschwung als Folge der vorigen Ereignisse – langweilig wird es dabei auch ohne klar abgestecktes Ziel nie. In kleinen Trippelschritten lernen Lisa und ihre Mitmenschen sich selbst und sich gegenseitig genauer einschätzen – die Redewendung vom Weg, der das eigentliche Ziel ist, trifft hier im krassen Gegensatz zur Produktionsgeschichte des Films ins Schwarze. Dorthin gezielt und getroffen haben auch Lonergans Darsteller, allen voran „True Blood"-Star Anna Paquin und ihre Filmmutter J. Smith-Cameron („Carrie 2 – Die Rache"), die kaum zu spielen sondern vielmehr vor der Kamera zu leben scheinen. Auch Lonergan selbst taucht in einer Nebenrolle als Lisas abwesender Vater auf, der immer wieder mal wissen will, wie es seinem Kind so geht. Und das ist vielleicht das einzig nennenswert Unbefriedigende an „Margaret": Dass man nach dem Abspann nicht eine Woche später einfach mal durchklingeln kann, um sich nach der aktuellen Befindlichkeit von Lonergans großartig geschriebenem Figurenensemble zu erkunden.
Fazit: Es ist schwer zu glauben, dass ein so starker Film wie Kenneth Lonergans „Margaret" jahrelang so ausgebremst wurde und auch nach seiner Veröffentlichung bislang nur ein kleines Publikum finden durfte. Hoffentlich ändert sich das noch – die emotionalen Wahrheiten dieses Coming-of-Age-Dramas nämlich hallen nach und wecken auf!