Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
2,5
durchschnittlich
The Blue Trail

Dystopie auf dem Amazonas

Von Michael Bendix

„Grüße von oben“ schickt gleich in der ersten Szene des Films „The Blue Trail“ ein Flugzeug, das ein Banner hinter sich herzieht – darauf geschrieben steht der Slogan: „Unser Land fliegt in die Zukunft.“ Das Wort „oben“ ist hier doppelt konnotiert: Zum einen meint die körperlose Männerstimme, die da im euphorisierten, Aufbruch suggerierenden Tonfall zu den Bewohner*innen einer kleinen brasilianischen Industriestadt mitten im Amazonasgebiet spricht, damit schlicht und einfach die Luft, durch die sich das Flugzeug bewegt. Eigentlich bezieht sich „oben“ aber, das ahnt man gleich, auf eine korrupte politische Elite, die auf die Bevölkerung „da unten“ herabblickt und über ihr Leben verfügt.

Natürlich hat Regisseur Gabriel Mascaro („Neon Bull“) sehr gute Gründe, seine Metaphern mit dickem Pinsel zu malen. Vier Jahre Regierungszeit des Nationalisten und Rechtsextremisten Jair Bolsonaro – und damit vier Jahre sozialer und umweltpolitischer Kahlschlag – haben zwangsläufig ihre Spuren hinterlassen. Derweil grassieren natürlich nicht nur in Lateinamerika, sondern rund um den Globus Ideologien, die im Wesentlichen auf ausgrenzenden Oben-Unten-Dichotomien basieren.

Tereza weigert sich, in eine Senioren-Kolonie abgeschoben zu werden. Guillermo Garza / Desvia
Tereza weigert sich, in eine Senioren-Kolonie abgeschoben zu werden.

In „The Blue Trail“ denkt Mascaro so über mögliche Auswüchse nach, die neoliberale Wirtschaftssysteme und entgrenzter Kapitalismus treiben könnten, wenn man sie gewähren lässt. Sein vierter Spielfilm ist in einer nicht näher benannten Zukunft angesiedelt, die abgesehen von glasummantelten elektronischen Bibeln, die später im Film noch eine Rolle spielen werden, zunächst gar nicht so futuristisch anmutet. Doch bald verraten skurril anmutende Geschehnisse, dass wir uns in einer Dystopie befinden.

Die Protagonistin Tereza (Denise Weinberg) bekommt Besuch von einer Regierungsbeamtin, die zunächst einen überdimensionierten Lorbeerkranz an der Außenseite ihres Hauses befestigt und ihr dann eine Medaille überreicht – „für ihr Alter“. Denn Tereza ist 77 und damit „lebendes Nationalerbe.“ Doch schnell wird klar, dass hier nicht ihre Verdienste gewürdigt werden sollen – vielmehr möchte die Regierung sie aus dem Weg schaffen, so wie alle älteren Menschen. Die werden ab dem 80. Lebensjahr in spezielle Senioren-Kolonien abtransportiert, damit die Arbeitsleistung der Jüngeren (die soziale Berufe wie Altenpflege offensichtlich nicht mehr umfasst) nicht vermindert wird. Wirtschaftliches Wachstum steht über allem anderen, „Produktivitätsbehinderung“ ist nicht nur ein gängiges Wort, sondern gilt als Strafbestand.

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Gerade erst wurde die Altersgrenze gesenkt, sodass Tereza nun nicht mehr drei Jahre, sondern nur noch sieben Tage bleiben, bis der sogenannte „Altenabschlepper“ sie ihrem Umfeld entreißt. Während etwa der Enkel eines gerade verschleppten Senioren lautstark gegen seine gewaltsame Umsiedlung protestiert, scheint Terezas Tochter kein Problem damit zu haben, sich bald von ihrer Mutter verabschieden zu müssen. Doch die ältere Dame weigert sich, ihr Schicksal einfach so zu akzeptieren – und so setzt sie alles daran, sich wenigstens noch ihren letzten großen Traum zu erfüllen: Sie will einmal in einem Flugzeug sitzen, das in „The Blue Trail“ also nicht nur Unheilsbringer ist, sondern auch Sehnsuchtsobjekt und Freiheitssymbol.

Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Ständig muss sie ihren Ausweis vorzeigen, ständig werden ihr Steine in den Weg gelegt – auch von ihrer eigenen Tochter, die mittlerweile ihr Vormund ist. Dank der Bekanntschaft mit Cadu (Rodrigo Santoro), der sich sein Geld mit illegalen Transporten verdient, gelingt es ihr aber doch, gegen alle Widerstände zu einer Reise über den Amazonas aufzubrechen, hin zu dem Ort, an dem ein Ultraleichtflugzeug auf sie warten soll.

Tereza ist endlich auf der Reise. Guillermo Garza / Desvia
Tereza ist endlich auf der Reise.

Wenn wir aus der Obersicht sehen, wie sich das tropische Gewässer regelrecht durch den Dschungel zu schlängeln scheint, oder die Kamera nur knapp über der Wasseroberfläche vorwärts gleitet, um dem Flusslauf und dem Boot zu folgen, dann gelingt es Mascaro durchaus, der urwüchsigen Landschaft und den natürlichen Farb- und Lichtstimmungen eine sinnliche Qualität abzutrotzen. Überhaupt hat „The Blue Trail“ motivisch einiges zu bieten: von einem Schlachthaus, in dem Dutzende Krokodile von der Decke herabhängen, über einen Lost Place im Dschungel voller surrealer Skulpturen und eigenartiger Pflanzen bis hin zu einem Fischkampf in Nahaufnahme.

Je stärker der Film im Folgenden aber ins Episodische abgleitet, desto mehr beginnt er zu schlingern. So wandelt er sich von einer warnenden, aber halbgaren Satire zu einem Dschungelabenteuer mit mystischer Note. Letzteres wird klar, als wir erfahren, was es mit dem Titel auf sich hat: Dieser bezieht sich nämlich auf eine Schnecke, die eine bewusstseinserweiternde blaue Flüssigkeit absondert. Wie aus den meisten seiner zahlreichen Ansätze macht „The Blue Trail“ daraus aber wenig.

Zwischen Abenteuer und Metaphern

Schließlich entwickelt sich „The Blue Trail“ zu einem (durchaus herzlichen) Hangout-Film: Tereza trifft eine gleichaltrige Frau, die mit Geld ihre Freiheit erkauft hat und ziellos mit ihrem Boot von Dorf zu Dorf driftet – eine Begegnung, aus der nicht nur Freundschaft, sondern vielleicht sogar so etwas wie Liebe entsteht.

Was sich in einem besseren Film nach dramaturgischer Offenheit anfühlen könnte, wirkt bei Mascaro allerdings unentschieden, zumal er nie ganz den Hang abstreift, seine Bilder und Szenen um allzu offensichtlich ausbuchstabierte Metaphern herum zu bauen. Als dezidiert politischer Film wiederum bleibt er zwischen all den menschelnden Begegnungen zu undringlich und harmlos.

Fazit: „The Blue Trail“ beginnt als dystopische Satire, verliert sich aber zunehmend in episodenhaften Begegnungen und überdeutlichen Metaphern. Trotz einiger eindrucksvoller Bilder bleibt Gabriel Mascaros vierter Spielfilm zu unentschieden und harmlos, um wirklich zu fesseln – weder als politische Allegorie noch als Abenteuerdrama.

Wir haben „The Blue Trail“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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