+++ Meinung +++
Im August 2016 veröffentlichte BBC Culture eine Liste mit den 100 besten Filmen des 21. Jahrhunderts. Dabei waren moderne Klassiker („Mulholland Drive“ auf Platz 1, „In The Mood For Love“ auf 2), Publikumserfolge („WALL-E“, „The Dark Knight“) und Hardcore-Festival-Kino. Mittendrin, sogar auf Platz 31, liegt „Margaret“. Ein Film, der wohl auch bei einigen ausgewiesenen Filmfans ein Fragezeichen auf der Stirn auslöst – zumindest in Deutschland.
2011 kam das Drama des späteren „Manchester By The Sea“-Regisseurs Kenneth Lonergan in die amerikanischen Kinos. Da lagen die Dreharbeiten schon fünf Jahre zurück. Lonergan tat sich aber schwer, einen finalen Cut zu fabrizieren. Sein erster Versuch war gut drei Stunden lang. Die Produzenten wollten nicht mehr als 150 Minuten. Auch eine 165-Minuten lange Schnittversion von keinem Geringeren als Martin Scorsese half nichts. Es kam zu einem Streit vor Gericht. Ins Kino kam schließlich eine zweieinhalbstündige Variante. Die gibt es auch auf Disney+ zu sehen.
›› "Margaret" bei Disney+*
Hierzulande kam „Margaret“ gar nicht ins Kino, sondern startete 2012 direkt auf DVD. Es gibt nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zu dem Film! Und das trotz einer durchaus prominenten Besetzung. Neben „X-Men“-Star Anna Paquin sind MCU-Hulk Mark Ruffalo, Matt Damon („Good Will Hunting“), Matthew Broderick („Ferris macht blau“), Kieran Culkin („Succession“) und Jean Reno („Leon: Der Profi“) dabei.
"Margaret" auf Disney+: Schuld und Sühne als Coming-of-Age-Story
Die 17-Jährige New Yorkerin Lisa Cohen (Anna Paquin) will in New York einen Cowboyhut kaufen. Als sie einen Busfahrer (Mark Ruffalo) mit ebensolcher Kopfbedeckung sieht, will sie in anhalten, um zu fragen, wo er den Hut gekauft hat. Der Fahrer wird abgelenkt und übersieht eine rote Ampel. Er überfährt eine Frau. Sie stirbt in Lisas Armen.
In ihrer ersten Aussage bei der Polizei behauptet Lisa noch, dass die Ampel für den Bus grün gezeigt hätte – um sich zu schützen. Doch später sieht sie ihr Fehlverhalten ein. Sie ändert ihre Aussage und sucht den Busfahrer auf. Der will von einer Mitschuld nichts wissen. Das verärgert Lisa so, dass sie mit einer Freundin der Toten vor Gericht ziehen will. Sie will, dass der Busfahrer, der schon mehrere Unfälle verursachte, buchstäblich aus dem Verkehr gezogen wird.
Lisas moralisches Dilemma und ihr juristischer Kampf für Gerechtigkeit sind das Rückgrat der Story von „Margaret“. Der Unfall und seine Folgen dienen als Katalysator für eine Coming-of-Age-Geschichte. Wie in vielen Filmen dieses Genres wird die Hauptfigur mit dem Tod und damit der Vergänglichkeit des Lebens konfrontiert. Sie lernt, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und Eigenständigkeit zu entwickeln.
Anna Paquin liefert als privilegierte, aber reflektierte Schülerin eine denkwürdige Performance ab. Ihre Lisa Cohen ist eine der schillerndsten und gleichzeitig glaubwürdigsten Teenie-Figuren der Coming-of-Age-Historie. Sie ist eigensinnig bis zur Sturheit und extrem sprunghaft. Sich selbst bezeichnet sie als Bündel aus „chaotischen Impulsen“.
Gleichzeitig ist sie auch empathisch, sozial denkend und wirkt sehr erwachsen. Sie ist durchgehend als ambivalente Figur angelegt, auch mit irritierenden Zügen. So kokst sie kurz nach dem Unfall auf einer Party und macht mit einem vergebenen Typen rum. Dennoch denunziert die Inszenierung die Heldin nie und stellt ihre Handlungen nie plakativ als reine Eskapaden von ihren Schuldgefühlen dar. Lisa ist eben widersprüchlich.
Zu lang und gleichzeitig zu kurz – trotzdem mit Sogwirkung
Wie in „Manchester By The Sea” liefert Kenneth Lonergan eine wuchtige Schuld-und-Sühne-Geschichte. Es geht auch hier darum, wie man weiterleben kann, wenn man den Tod eines anderen Menschen auf dem Gewissen hat. Wie der spirituelle Nachfolger mit Casey Affleck schwankt auch „Margaret“ zwischen melodramatischen, realistischen und sogar komischen Momenten. Manchmal sogar innerhalb einer Szene. Der Unfall etwa hat durch die Verwirrung des Opfers fast schon groteske Züge.
Die 100 besten Filme des 21. Jahrhunderts„Margaret“ ist aber auch nicht ohne Schwächen: Mancher Handlungsstrang, wie die Liebesgeschichte von Lisas Mutter, nimmt verhältnismäßig zu viel Raum ein, obwohl sie zum Kernkonflikt nicht viel beiträgt. Andere Aspekte wie die zentrale Story rund um den Unfall kommt gemessen an seinen tragischen Dimensionen etwas zu kurz.
Da ändert auch der mit 186 Minuten deutlich längere Directors-Cut nichts dran, wie ihn Lonergan 2012 ablieferte. Aber das macht gar nicht viel aus. „Margaret“ ist so sprunghaft, unkonzentriert und sympathisch unperfekt wie seine Heldin – und entfaltet so seine ganz eigene Sogwirkung.
In der FILMSTARTS-Kritik gab es für das auf Disney+ verfügbare Drama die herausragende Wertung von 4,5 Sternen:
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