+++ Meinung +++
Wenn man mal durch die Szenenbilder von „Pleasure“ stöbert, wird eigentlich relativ schnell deutlich, was einen hier erwartet: Sex pur. Dass das allerdings noch lange nicht sexy sein muss, macht dann der Film selbst nach nur wenigen Minuten mehr als deutlich. Denn auch wenn „Pleasure“ wohl mehr nackte Haut als sonst irgendein Kinofilm 2022 zeigen dürfte, sucht man prickelnde Erotik hier vergeblich. Wenn die schonungslose Demontage der Pornoindustrie nämlich etwas in seinem Publikum auslöst, dann ist das wohl das genaue Gegenteil dessen, was ihr Gegenstand – nämlich schmutzige Sexfilmchen – in einem bewirken sollen. Tatsächlich dreht sich „Pleasure“ nämlich weniger um das titelgebende „Vergnügen“, sondern vielmehr um den Preis dafür.
„Pleasure“ ist schonungslos und nichts für Zartbesaitete – und sicherlich auch ein Film, den so manche Interessierte dann doch lieber zuhause als im Kino schauen. Wer jedenfalls nicht zu den gerade einmal 370 Besucher*innen zählte (via Blickpunktfilm), die in der Startwoche für „Pleasure“ ein Ticket lösten und lieber abwarteten, um den Film dann in den eigenen vier Wänden nachzuholen, wurde nun schon zwei Monate später mit der DVD und Blu-ray bedient. Ab sofort gibt es „Pleasure“ aber auch einfach im Abo bei Amazon Prime Video:
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Als kleine Vorwarnung: „Pleasure“ ist nicht nur knallhart, sondern auch sehr explizit und erhielt seine 18er-Freigabe nicht ohne Grund. Es lohnt sich also durchaus zu überlegen, mit wem ihr hinter die Kulissen der Pornoindustrie eintauchen wollt. Tipp: Mit den Eltern könnte der Film noch wesentlich unangenehmer werden, als er ohnehin schon ist…
"Pleasure": Ein Schlag in die Magengrube
Im Zentrum von „Pleasure“ steht Linnéa (Sofia Kappel), die, kaum volljährig, von einer großen Pornokarriere träumt. Also lässt sie ihre schwedische Heimat hinter sich und macht sich völlig auf sich allein gestellt auf den Weg nach Los Angeles. Denn in der Sexfilmbranche ist Zeit nun mal Geld – noch mehr als ohnehin schon, da Darstellerinnen natürlich ganz besonders gefragt sind, solange sie noch jung sind.
Sie legt sich einen Künstlernamen zu und macht als „Bella Cherry“ schon bald die Pornosets der Stadt unsicher. Doch je tiefer sie in den Schlund aus Fellatio, Analsex und Rollenspiele eintaucht, desto schwerer fällt es ihr, gegen die Unterdrückung anzukämpfen, die ihr als Frau sowohl vor als auch hinter der Kamera entgegengebracht wird…
„Der ehrlichste Film aller Zeiten über die moderne Porno-Industrie“, wird IndieWire auf dem Cover der „Pleasure“-DVD zitiert – und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Während mich das Kino regelmäßig in fremde Welten entführt und verzaubert, sind es am Ende vor allem solch gnadenlos-ehrliche Filme, die mich berühren, schockieren und letztlich auch zum Nachdenken bewegen. Was „Systemsprenger“ für mich 2019 war, ist „Pleasure“ 2022.
Der härteste Film 2019: Wie mir "Systemsprenger" den Boden unter den Füßen wegrissNie würde man auf die Idee kommen, dass Ninja Thyberg mit „Pleasure“ ihr Spielfilmdebüt feiert. So souverän, so selbstsicher und so unverblümt wie die 37-Jährige zu Werke geht, zeugt von einer ungeheueren Entschlossenheit, die beeindruckt. Und sie kommt nicht von irgendwoher. Denn Thyberg beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft, setzt sich dabei vor allem kritisch mit der Pornoindustrie auseinander und lässt ihre Erfahrungen seit jeher auch in ihre Werke einfließen. Auf eine Reihe von Kurzfilmen wie „Hot Chicks“ und „Girls & Boys“ folgte mit „Pleasure“ nun ihr erster Langfilm – und was für einer.
„Pleasure“ ist ein drastischer Augenöffner, der fast schon einen dokumentarischen Blick hinter die Pornoindustrie wirft – unverfälscht, authentisch und ebenso schrecklich wie glaubwürdig. Ninja Thyberg entführt ihr Publikum nicht bloß in eine Welt, die heutzutage nur wenige Klicks entfernt ist, sondern zeigt vor allem das, was wir im Netz eben nicht zu sehen kriegen.
Noch schlimmer als die besorgniserregende Ungleichbehandlung von Männern und Frauen ist dabei nur noch die Selbstverständlichkeit, mit der eben diese hingenommen wird. Spätestens beim Dreh einer Vergewaltigungsszene, in der Bella Cherry durch die Hölle geht, während es für ihre männlichen Drehpartner (ja, Plural) einfach „Teil des Jobs“ ist, die junge Frau zu demütigen, sie anzuspucken und zu schlagen, entwickelt „Pleasure“ eine verstörende Wucht, der man sich kaum noch entziehen kann – ganz egal, ob man nun Mann oder Frau, PornHub-Abonnent*in oder streng katholisch ist.
PleasureAm Ende entwickelt „Pleasure“ ein Kraft, wie man sie sonst nur aus Tierdokus à la „Cowspiracy“ kennt – und erreicht damit wohl genau das, was sich Regisseurin Ninja Thyberg auch vorgenommen hat. Nur dass sie eben nicht Steak-Enthusiasten, sondern Porno-Fans dazu bewegt, ihre Fleischeslust ein wenig reflektierter zu betrachten.
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Dies ist eine Wiederveröffentlichung eines bereits auf FILMSTARTS erschienenen Artikels.