Den Verantwortlichen hinter den einzelnen Beiträgen zur Netflix-Animationsserie „Love, Death & Robots“ werden in ihrer Kreativität kaum Grenzen gesetzt. Und so fällt das Ergebnis nicht nur in Sachen Animationsstil, sondern auch im Hinblick auf die Handlung der jeweils abgeschlossenen Kurzfilme sehr vielfältig aus. So finden sich hier straighte Horror-Actioner genauso wie verspielte Sci-Fi-Komödien, melancholische Weltraum-Abenteuer – oder eben mit Mythologie und Metaphern spielende Fantasy-Geschichten wie „Jibaro“ aus Staffel 3.
Der 17-minütige Film dürfte dabei die Folge aus der neuen Season sein, die beim Publikum für die größte Verwirrung sorgt, einerseits wegen der symbolisch aufgeladenen und komplett ohne Worte auskommenden Handlung, anderseits aber auch wegen der eigenwilligen Inszenierung voller schneller Kamerabewegungen, Schnitte und Unschärfespielereien. Wir wollen daher einmal einen Erklärungsversuch wagen...
Das passiert in "Jibaro"
In „Jibaro“ sehen wir, wie eine Gruppe Konquistadore (jene Entdecker also, die im 16. und 17. Jahrhundert weite Teile Amerikas als Kolonien in Beschlag nahmen) ihr Lager an einem See aufgeschlagen hat. Unter ihnen befindet sich auch der titelgebende gehörlose Soldat, der im See eine goldene Schuppe findet und sie begierig einsteckt. Das wird von einer Sirene aus dem Wasser beobachtet – die daraufhin auftaucht und in all ihrer schmuckverzierten Pracht mit einem Verführungstanz und ihren Schreien die Menschen am Ufer in einen regelrechten Wahn verfallen lässt.
Beim von Gier getriebenen verzweifelten Versuch, das Wesen aus dem Wasser zu erreichen, bringen sich viele der angelockten Männer gegenseitig um, der Rest ertrinkt im See. Jibaro aber bleibt davon verschont, da er den Sirenengesang nicht hört, und ergreift schließlich die Flucht. Da sie offenbar noch nie jemandem begegnet ist, der ihren verhängisvollen Avancen widerstehen konnte, ist die Sirene von dem Fremden fasziniert. Im festen Glauben, dass er anders als die anderen ist, beginnt sie, ihm neugierig zu folgen, und legt sich gar zu ihm, als er sich ausruht.
Nachdem er aufgewacht ist, rennt sie jedoch erschrocken davon, während Jibaro endgültig realisiert, dass die goldene Schuppe, auf die er zuvor gestoßen ist, von ihrem Körper stammt. Als er sie dann erneut aufspürt, nähern sich die beiden einander an. Die Sirene tanzt eng an Jibaro, er aber zieht ihr eine weitere Schuppe aus dem Körper, was sie bluten lässt. Die beiden tauschen schließlich noch Küsse aus, die Jibaro wegen des schmuckbewährten Mundes der Sirene verletzen – bis der Soldat sein Gegenüber schließlich niederschlägt. Gepackt von Gier, reißt er der Ohnmächtigen brutal all ihren Schmuck vom Körper und stößt sie dann verblutend einen Wasserfall hinunter.
Auf diesem Weg landet sie wenig später auch wieder im See vom Anfang, von wo aus sich ihr Blut verteilt – und das auch in die umliegenden Flüsse bis zu Jibaro, der mit seiner wertvollen Beute im Gepäck von ebenjenem Wasser trinkt. Da das Blut scheinbar heilende Kräfte hat, kann der Konquistador plötzlich zum ersten Mal in seinem Leben hören – was ihn aufgrund der vielen neuen Eindrücke zunächst vor allem in Panik versetzt.
In seiner Verwirrung treibt es ihn so schließlich ebenfalls zum See zurück, wo die wiedererweckte Sirene erneut aus dem Wasser auftaucht. Geschockt, dass sie so misshandelt wurde und plötzlich so entblößt ist, findet sie eher zaghaft ihre Stimme wieder – der nun auch Jibaro mit seinem neu gewonnenen Gehör nicht mehr widerstehen kann. Und so landet er, wie so viele andere vor ihm, letzten Endes ebenfalls am Grund des Sees...
Metapher für Kolonialisierung ...
Führt man sich erst einmal den historischen Kontext vor Augen, liegt eine eng mit der Handlung verknüfte Aussage von „Jibaro“ ziemlich auf der Hand. Der See und die Sirene stehen hier für die früheren Kulturen und Menschen Amerikas, die von den Invasoren aus anderen Ländern zur eigenen Bereicherung schamlos ausgebeutet wurden. In diesem Zusammenhang wird auch angedeutet, dass die Sirene die Konquistadoren lediglich nach einer Provokation angegriffen hat. So setzt sie erst zu ihrem tödlichen Tanz an, nachdem sie gesehen hat, wie Jibaro sich eine ihrer Schuppen einsteckt.
In dieser Analogie steckt auch eine mögliche Erklärung dafür, dass der See die Form eines Herzens hat, war abseits der Reichtümer doch vor allem auch das Wasser tatsächlich ein Herzstück der Existenz der früheren amerikanischen Völker. Zugleich stellt diese Herzform aber auch eine Verbindung zu einer weiteren Ebene der Geschichte dar, wenn Jibaro gegenüber der Sirene sein wahres Gesicht offenbart hat und sich wenig später ihr Blut in das Gewässer ergießt. Auch ihr blutet schließlich sprichwörtlich das Herz, als sie feststellen muss, dass Jibaro genauso von Gier getrieben wird wie seine Mitstreiter.
Dass er ausgerechnet diesen Namen trägt, kann dabei zudem als ironischer Kommentar gesehen werden. Das aus Puerto Rico stammende Wort Jibaro bezeichnet dort nämlich traditionelle Farmer, die das Land in Einklang mit der Natur bestellen – das Gegenteil also von jemandem, der das Land zu seiner eigenen Bereicherung bestiehlt.
... und toxische Beziehungen
Zugleich ist „Jibaro“ aber auch eine Metapher für moderne toxische Beziehungen. Das erklärte jüngst Regisseur Alberto Mielgo persönlich, der übrigens erst in diesem Jahr einen Oscar für seinen animierten Kurzfilm „The Windshield Wiper“ gewann und bereits für die visuell ähnliche „Love, Death & Robots“-Highlightfolge „Die Augenzeugin“ aus Staffel 1 verantwortlich zeichnete.
„[Es ist] eine Beziehung zwischen Jägern, die sehr sinnlich ist, da sie auf einer gegenseitigen Anziehung aus den falschen Gründen fußt“, führte Mielgo im Gespräch mit dem Magazin AnimationWorld aus. „Ich mag es, wenn man nicht weiß, wer wirklich der Gute und wer der Böse ist. Das sorgt für starke Gefühle.“
Für den „Jibaro“-Macher selbst sind also beide Parteien in der außergewöhnlichen Beziehung seiner Geschichte dafür verantwortlich, dass sie in den Abgrund gerissen werden. Mal symapthisiere man mehr mit der einen Seite, mal mehr mit der anderen, letztlich gehen sie aber beide äußerst grausam zu Werke. Die Sirene hat einerseits bereits unzählige Leben auf dem Gewissen (auch wenn sie mal mehr, mal weniger aus Notwehr handelte). Jibaro hingegen vergreift sich blind vor Gier und in einer symbolischen Vergewaltigung rücksichtlos an der Beschützerin des Sees.
Im Zuge dessen sieht Mielgo seinen Film auch als Antithese zur klassischen Heldengeschichte, in der die Hauptfiguren als bessere Menschen aus ihrer Reise hervorgehen: „Hier gibt es keine Besserung. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall. Beide sind am Ende die schlechtesten Versionen ihrerselbst. Und sie lernen keine Lektion. Beide verlieren.“
Die ohnehin schon bedrückende Geschichte bekommt mit dieser Aussage eine noch bitterere Note, zementiert so aber auch ihren Status als einer der Höhepunkte der dritten „Love, Death & Robots“-Staffel.