Christopher Nolan machte 2000 mit „Memento“ den Anfang. Darauf folgte ein Boom von Filmen, die auf mehreren Ebenen spielen (verschiedene Zeiten, Traumwelten oder Wahnsinn vs. Realität) und dem Zuschauer das Gehirn verknoten. Der Begriff „Mindfuck“ setzte sich für diese Erzähltechnik durch, die vor allem in Science Fiction oder Mystery exzessiv eingesetzt wird.
Im gelungenen Fall nutzen Mainstream-Filme Mindfuck-Strategien, um soliden Actionspektakeln das gewisse Etwas zu verleihen („Inception“ „Looper“, „Edge of Tomorrow“, „Tenet“). Im schlechtesten Fall nehmen Filmemacher sie als Vorwand, um Logik komplett zu suspendieren – oder um den Zuschauer mit billigen Tricks auf die falsche Fährte zu führen.
Es gibt aber auch Regisseure, die uns mit Mindfucks radikal in die subjektive Innenwelt der Charaktere ziehen. Dazu gehört der frühe Christopher Nolan („Following“, „Memento“), David Lynch natürlich – und im Bereich der Science Fiction Shane Carruth. Dessen meisterhaften Sci-Fi-Film „Upstream Color“ könnt ihr bei MUBI streamen. Der Anbieter lässt sich separat oder als Zusatzchannel bei Amazon Prime Video buchen, wo es auch einen kostenloses 7-tägigen Testzeitraum gibt:
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"Upstream Color"-Regisseur Shane Carruth: Radikaler Autorenfilmer
Shane Carruth ist einer der radikalsten, konsequentesten Autorenfilmer überhaupt. Seit 2004 drehte er nur zwei Filme, bei denen er in Personalunion als Regisseur, Produzent, Autor, Komponist und Cutter fungierte.
Steven Soderbergh nannte Carruth einmal „das uneheliche Kind von David Lynch und James Cameron“. Wobei der Einfluss des straighten Hollywood-Profis Cameron zumindest stilistisch gegen Null tendiert. Mit Camerons „Terminator“ verbindet Carruth höchstens das Zeitreisemotiv in seinem Erstling „Primer“. Zwei Ingenieure erfinden darin in ihrer Freizeit mehr oder weniger zufällig eine Zeitmaschine. Die nutzen sie erst dazu, an der Börse Geld zu machen und dann, um einen Überfall auf die Freundin eines der Ingenieure zu verhindern.
So glaubhaft und gleichzeitig hirnverknotend wie bei dem studierten Mathematiker und ehemaligen Software-Entwickler Carruth waren Zeitreisen im Film nie zuvor und danach nie mehr.
Nacherzählung nur schwer möglich: Die Story von Upstream Color
Die Story von „Upstream Color” nachzuerzählen ist gar nicht so einfach. Man muss sie mühsam aus einem verschlungenen Plot extrahieren, den Carruth voller Andeutungen, Auslassungen und Loops präsentiert. Er springt kühn und ohne klare Markierung durch Zeit und Raum. Um die Story nachvollziehen zu können, muss man den Film allermindestens zweimal gesehen haben. Oder man sollte auf einem Second Screen die (gute) Beschreibung bei Wikipedia geöffnet haben.
Da eine Nacherzählung also kaum möglich ist (und der Qualität des Films auch nicht gerecht wird), müssen ein paar Eckpunkte der Story genügen. Kris (Amy Seimetz) wird bei einem Clubbesuch von einem Mann betäubt. Er flößt der jungen Frau eine Insektenlarve ein. Die Made löst bei Kris eine Art Hypnose aus. Der Mann bringt sie in diesem Zustand dazu, für ihn Geld zu beschaffen.
Doch diese Krimihandlung, die bei anderen Regisseuren für einen ganzen Film genügen würden, ist nur der Anfang. Eine falsche Fährte im filmischen Labyrinth. Als der Dieb sie schon bald aus der Hypnose entlässt, kann sich Kris an nichts erinnern. Dafür bewegt sich unter ihrer Haut ein mittelfingerlanger Wurm. David Cronenbergs parasitengetriebener Bodyhorror lässt grüßen. Später trifft Kris einen Mann (gespielt von Carruth selbst), der wie sie schlafwandelnd durchs Leben geht. Er hat offenbar die gleiche Prozedur durchgemacht wie sie. Zusammen versuchen sie herauszufinden, was ihnen widerfahren ist. Ein mysteriöser Schweinefarmer und Geräuschesammler spielt dabei eine Rolle.
Ein Filmgedicht wie von Terrence Malick
Bei „Upstream Color“ geht es trotz der verzwickten, originellen Geschichte, mehr um das Wie als um das Was.
Wie Terrence Malick arbeitet Carruth mit assoziativen, impressionistischen Bildern. Wiederkehrende Motive verweben sich zu einem filmischen Gedicht. Gesprochen wird kaum. Die aufgesetzten Erklär-Dialoge, die beim späteren Christopher Nolan so nerven, fallen radikal weg. Obwohl es auch hier eine Auflösung des Rätsels gibt (die man sich allerdings mühsam erschließen muss) finden wir bei „Upstream Color“ keine Instanz, die am Schluss „Haha, war alles nur ein Traum“ sagt.
Der Zuschauer muss sich selbst orientieren. Oder auch die intellektuellen Waffen strecken. Sich ganz dem Fluss der Bilder, der Musik, der Stimmung ergeben. Der poetische Stil ist bei aber keine Spielerei, sondern spiegelt die verwirrte Weltsicht der Protagonisten wider. Sie leben ihn einem, so viel kann man verraten, fremdbestimmten Kreislauf. Was oder wer sie dabei steuert, erfahren sie und wir Zuschauer erst nach und nach.
Vorsicht, Spoiler: Am Ende durchbrechen Kris und Jeff den Zirkel. Ein Zirkel, der für die Ausbeutung der Natur steht. Die Helden leben nun in einer Art Utopie, bei der die Idee des „Zurück zur Natur“ der im Film mehrfach erwähnten Aussteigerbibel „Walden“ von Henry David Thoreau eine wichtige Rolle spielt. Eine Botschaft, wenn auch ohne Holzhammer eingeprügelt, gibt es also auch. Ende des Spoilers.
„Upstream Color“ steht für eine andere Art von Mindfuck als die Klugscheißerfilme mit ach so überraschendem Ende. Hier ist der Regisseur kein Manipulator, der dein Hirn „fickt“, um im Bild zu bleiben. Er stimuliert stattdessen die Synapsen zum Tanzen.
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