+++ Meinung +++
Das Disney-Piratenspektakel „Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten“ ist ein kurioser Fall: Mit 1,04 Milliarden Dollar Kinoeinnahmen ist es der zweiterfolgreichste Teil der „Fluch der Karibik“-Saga. Doch wer denkt, dass der Film von „Chicago“-Regisseur Rob Marshall also ein Publikumsliebling sein muss, irrt: Mit 6,6/10 Punkten bei IMDb, 2,6/5 Sternen bei Letterboxd und 54% Audience Score bei Rottentomatoes steht „Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten“ bestenfalls durchwachsen da.
Auch ich als großer Fan der „Pirates Of The Caribbean“-Reihe habe eine komplizierte Beziehung zum vierten Teil der Reihe. Bei keinem anderen habe ich häufiger meine Meinung geändert, wo ich ihn innerhalb des Franchises von Disney und Megaproduzent Jerry Bruckheimer einordne. Aber eins blieb konstant: Es hat mich immer wieder zu ihm zurückgezogen. Neulich wieder – nämlich zur Einstimmung auf sein zehnjähriges Jubiläum, das aktuell ansteht. Und mittlerweile bin ich überzeugt: Diesem auf Disney+ abrufbaren Kassenschlager wird Unrecht getan!
» "Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten" auf Disney+*
Der rote Faden, den kaum wer beachtet
Habt ihr beispielsweise bemerkt, dass „Pirates Of The Caribbean 4“ einen sehr stringenten, thematischen Kitt hat? Die Autoren Ted Elliott und Terry Rossio begnügten sich nicht mit einer schalen Abenteuerhatz zum Jungbrunnen. Stattdessen verweben sie die Mythologie innerhalb des Films sowie die Charakterisierungen fest mit dem Themenkomplex Identitätssuche: Es geht um gekränkte Egos, den (befürchteten) Verlust von Selbstbestimmung und den ständigen Kampf darum, als man selbst erkannt zu werden.
So wohnen wir zu Beginn einer Gerichtsanhörung bei, während der der alte Seebär Joshamee Gibbs vom wütenden Mob für Käpt'n Jack Sparrow gehalten wird. Das ist nicht nur für Gibbs ärgerlich, soll er doch deswegen gehängt werden, sondern zugleich ein Tiefschlag für Käpt'n Jack. Der rannte während der Gore-Verbinski-Piratentrilogie ja immer wieder stolz seinen Namen rufend umher und grinste selbstzufrieden, wann immer ihn jemand erkannt oder von ihm gehört hat. Und nun kommt raus, dass man ihn nicht von Gibbs unterscheiden kann? Das muss weh tun …
Gibbs' Verhandlung wird von einem schlecht verkleideten Käpt'n Jack gekapert (den dennoch niemand erkennt), woraufhin die zwei Freunde durch London kutschieren. Während dessen wirft ein rhythmisch geschriebener Dialog weitere Identitätsfragen auf: Gibbs enthüllt seinem Gegenüber, dass in London ein Sparrow-Doppelgänger umherläuft, dem alle Glauben schenken, worauf Jack entnervt und beleidigt reagiert. Erschwerend führt Gibbs fort, dass es selbst ihm mittlerweile schwerfällt, zu erkennen, was waschechtes Jack-Sparrow-Handeln ausmacht. Und der einmalige Jack? Der hat keine schlagfertige Antwort, sondern nur Gemurmel und Gebrabbel parat.
Niemand erkennt Jack, wie sehr steuert sich Jack eigentlich selbst?
Im Palast angekommen, wird Sparrow mit weiteren Zweifeln an seiner Identität konfrontiert, bevor es zu einer Verfolgungsjagd quer durch London kommt, die nach kurzer Verschnaufpause darin mündet, dass Jack seinen Doppelgänger zum Duell herausfordert („Du hast mich mir gestohlen. Und ich bin hier, um mich mir zurückzuholen!“). Dieser entpuppt sich als die Piratin Angelica (Penélope Cruz), die wiederum ihre eigene Identitätskrise durchmacht:
Sie ist zwischen ihrem Ich, das Sparrow nacheifert, ihrem früheren kreuzbrav-gläubigen Ich (sie war einst in einem Kloster) und ihrer Identität als Blackbeards Tochter hin und her gerissen ist, dem gegenüber sie familiäre Pflichtgefühle empfindet, obwohl sie seine Taten verachtet. Um wenigstens ein paar ihrer Probleme zu lösen, kidnappt sie Jack kurzerhand und lässt ihn nach ihrer Pfeife tanzen …
Blackbeard indes glaubt aufgrund einer Prophezeiung, dass sein Schicksal fremdbestimmt ist und bald enden wird. Dem wohnt eine gewisse Ironie inne, schließlich macht er ausgewählte Crewmitglieder zu willenlosen Zombies, und besitzt ein Schwert, das es ihm gestattet, sein Schiff einer Marionette gleich zum kontrollierten Leben zu erwecken. Zudem beherrscht er Voodoo und nutzt dies, um Jack Sparrow mehrmals zu zwingen, nach seinem Willen zu handeln.
Feinde, brüderlich vereint im Gespräch darüber, was sie ausmacht
Im Laufe dieses Abenteuers knüpfen die ewigen Feinde Jack Sparrow und Hector Barbossa flüchtig friedliche Bande, indem sie sich darüber austauschen, ob der zur Marine abgewanderte Barbossa seine Ideale hintergeht oder weiterhin sein wahres Ich auslebt, es jedoch unter einer billigen Fassade versteckt. Wie der von Geoffrey Rush genüsslich gespielte Fiesling erklärt, ist er tatsächlich nur auf einem listigen Rachefeldzug („Ich bin Herr über mein Schiff, nicht Blackbeard. Ich bin Herr über mein Schicksal, nicht Blackbeard.“) und kam nicht von seinem Kurs ab, auch wenn er aus taktischen Gründen einen gegenteiligen Anschein wahrt.
Der Themenkomplex zeigt sich auf abstraktere Weise außerdem in der Funktionsweise des Jungbrunnen (er verschenkt nichts, sondern raubt einem von zwei Probanden das Leben, um es dem anderen zu übertragen). Er ist darüber hinaus in den Nebenfiguren Philip Swift (ein Missionar, der an seinem ihn definierenden Glauben zweifelt) und Syrena (eine Meerjungfrau, die sich gegen das sonstige Gebaren ihrer Art auflehnt) präsent. Wobei ich einräumen muss, dass eine offiziell veröffentlichte, frühere Drehbuchversion diese Handlungsfäden konkreter ausarbeitet als die fertige Filmversion. Hey, ich sage ja nur, dass der Film cleverer und besser ist als sein Ruf – nicht, dass er ein verkannter Geniestreich ist!
Wie Jack Sparrow sich selbst findet
Auch Joshamee Gibbs kommt im fertigen Film etwas kurz: Sein Handlungsfaden (er wird gegen seinen Willen gezwungen, sein früheres Ich als Mitglied der Marine wieder auszuleben) sollte ursprünglich mit einer deutlichen Ich-Aussage beendet werden. Nach dem Finale sollte er Jack Sparrow beim Wiedersehen ein stolzes „Ich bin Joshamee Gibbs“ entgegen rufen. Er hätte somit einen Sparrow-Running-Gag an sich gerissen – doch das wäre ironischerweise nun ein Akt der Selbstbestätigung, ganz im Gegensatz zur Verwechslung zu Filmbeginn.
Anders als Gibbs' ausfransender Handlungsfaden durchläuft Sparrow seine thematische Reise im endgültigen Film konsequent: Seine Heldenhaftigkeit, seine Verwegenheit, sein Mut, seine Ungebundenheit, sein Wissen über das Mythische, einfach alles an ihm wird zunächst angezweifelt. Doch er zieht seinen Kurs durch. Im Actionfinale entscheidet Sparrow frei aus dem Bauch heraus, statt sich weiter um seine Wahrnehmung zu sorgen – und trägt so dazu bei, dass alle wichtigen Figuren dort ankommen, wo sie hingehören.
Für Jack ist das ein Prozess der Läuterung: Schlussendlich spaziert er mit Gibbs in den Sonnenuntergang, erklärt mit geschwellter Brust, dass er alle Irrungen und Versuchungen hinter sich gelassen hat und nunmehr genau weiß, was er will und wer er ist – und dass er sich mit seinem gesamten Wesen darauf einlässt. Konsequenterweise lautet die letzte Dialogzeile: „Ich bin ein Pirat, klar soweit?!“ Triumphaler Tusch, Abspann. Dass Teil fünf die „Ist Jack noch wiederzuerkennen?“-Frage wiederholen sollte … Nunja, das ist Stoff für eine andere Debatte und sollte nicht „Fremde Gezeiten“ angelastet werden.
Ein letztes schauspielerisches Hurra für Johnny Depp
Ein weiteres Argument, das für „Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten“ spricht: Es ist der (wohl) letzte Teil der Reihe, in dem mich Johnny Depp überzeugt! Denn in „Pirates Of The Caribbean: Salazars Rache“ ist der Schauspieler nicht mehr er selbst. All zu oft gleichen die Mimik und Gestik des einmaligen Käpt'n Jack Sparrow plötzlich Depps Version des Verrückten Hutmachers aus „Alice im Wunderland“. Das ist erstens ein Grund, sich Teil fünf in der Synchro anzuschauen (Synchronsprecher David Nathan bügelt wenigstens Depps stimmliche Inkonsistenzen aus), und zweitens ein Grund, weshalb ich rückwirkend „Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten“ stärker wertschätze.
In „Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten“ erleben wir letztmals diese faszinierende Mischung aus torkelndem, albern-inkompetent wirkendem, und dennoch fähigem, gerissenem Piratentum. Und die Figur bleibt nicht etwa statisch: Sparrow ist hier ein verwirrter Alleinunterhalter, aber auch ein verwegener Abenteurer, der bei aller Selbstsucht stets bemüht ist, Kollateralschäden zu vermeiden – nach den Ereignissen aus den ersten drei Teilen eine konsequente Weiterentwicklung der Rolle.
Neben Depp glänzt Penélope Cruz als trickreiche Piratin, die deutlich forscher ist als Sparrow und mindestens so gut lügt wie er, aber letztlich scheitert, weil sie ein weniger klares Ziel vor Augen hat als Jack (dem Unentschlossenheit bereits zwei Filme zuvor großen Schaden zugefügt hat). Die Oscar-Preisträgerin legt zudem so viele Zwischentöne in ihre Rolle, dass ich mir ein Wiedersehen mit Angelica in einem späteren Teil wünsche. Denn ich bin überzeugt, dass sich noch mehr aus der Figur rausholen lässt.
Wohlgemerkt: „Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten“ hat so seine schauspielerischen Schwachpunkte. Sam Claflin ist als Philip völlig blass, und Ian McShanes Blackbeard ist der bisher schwächste Schurke der Reihe. Wenn er monologisiert (und sonst tut er kaum was), kommt nur ein Bruchteil von McShanes sonst so typischer Gravitas rüber. Zum Glück ist der Schurkenpart in „Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten“ so nebensächlich wie in sonst keinem „PotC“-Teil, so dass die Enttäuschung über Blackbeard wenig Einfluss auf den Filmgenuss hat.
Wie Meerjungfrauen beweisen, dass es Käpt'n Sparrow nicht braucht
„Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten“ mag den lahmsten Schurken der Reihe haben – doch auch eine grandiose Szene, die so nur „Nine“-Regisseur Rob Marshall zu diesem Franchise beisteuern konnte: Die Meerjungfrauen-Jagd. Von Kameramann Dariusz Wolski („Sicario 2“) betörend schön gefilmt, zeigt sie, wie sich ein gleichermaßen eleganter wie unheilvoller schwarzer Nachthimmel über ein weißlich-schimmerndes Meer ausbreitet. Auf dieses wirft ein Leuchtturm schmeichelhaft-güldenes Licht, in dem sich eine von Model Gemma Ward gespielte Meerjungfrau mit lieblicher Singstimme räkelt – bevor sie und eine Horde weiterer Meerjungfrauen eine Schaluppe voller Piraten angreift.
Von einem Score begleitet, der wild zwischen dunkelromantisch, animalisch-dreckig und mystisch ringt, und von Rob Marshall gleichermaßen sinnlich wie schauermärchenhaft inszeniert, ist diese Sequenz nicht einfach nur der strahlende Höhepunkt von „Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten“, sondern eine der besten Szenen der gesamten Filmreihe.
Somit ist sie darüber hinaus ein bestechender Beweis dafür, dass „Pirates Of The Caribbean“ sehr gut ohne Käpt'n Jack Sparrow weitergehen kann: Das von Johnny Depp gespielte Gentleman-Raubein ist bei der Meerjungfrauen-Attacke auf See nämlich gar nicht zugegen – er irrt nur in einem Nebenstrang an Land herum. Einen echten Jack-Sparrow-Touch kann diese Sequenz nicht aufweisen – und er fehlt ihr auch nicht!
Los, segelt wieder auf fremden Gezeiten!
Falls ihr also zu den vielen Piraten-Fans gehört, die von „Pirates Of The Caribbean 4“ schwer enttäuscht waren: Ich kann nur einen Rewatch empfehlen! Ja, der Teil trifft mit seinen vielen Spielereien rund um das Thema Identität und Selbstbestimmung keine tiefschürfende Aussage, trotzdem ist es ein reizvolles narratives Stilmittel, so viele Elemente der Story auf diesen Themenkomplex zurückzuführen.
Es wird deutlich, dass sich Rossio und Elliott trotz der vielen „Macht die Filme simpler!“-Rufe nach Abschluss der ursprünglichen Trilogie nicht zu einer völligen Verflachung des Franchises bewegen ließen. Schneid, den man respektieren sollte! Und abseits dieser pfiffigen Drehbuch-Spielerei ist „Fremde Gezeiten“ gleichzeitig ein letztes Aufleben von Käpt'n Jack Sparrow als unangezweifelte Leinwandikone und ein ungeahnter, glänzender Testlauf dafür, wie klasse diese Filmreihe auch ohne ihn sein kann.
„Pirates Of The Caribbean: Fremde Gezeiten“ feiert in diesen Tagen sein zehnjähriges Jubiläum. Deutscher Kinostart war am 19. Mai 2011.
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