+++ Meinung +++
Je länger ich „I Care A Lot“ auf Netflix geschaut habe, desto weniger hatte ich eine Vorstellung davon, wohin sich der Film entwickeln würde. Und das ist absolut als Lob gemeint: Bei vielen Filmen hat man ja zumindest eine ungefähre Ahnung und je formelhafter die RomCom oder der Actionfilm ist, desto mehr weiß man sogar ganz genau, wohin die Reise führt.
Unsympathen wohin man blickt
Ganz entscheidend zur Unvorhersehbarkeit trägt bei „I Care A Lot“ bei, dass es keine klaren Sympathieträger gibt. Marla Grayson (Rosamund Pike)? Nutzt alte Leute und das kaputte System aus, um sich selbst zu bereichern und hat dabei nicht mal den Hauch eines schlechten Gewissens. Der Gangster Roman Lunyov (Peter Dinklage)? Will zwar seine Mutter aus Marlas Klauen retten, ist aber auch ein gnadenloser Killer und Menschenhändler.
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Nicht mal die von der großartigen Dianne Wiest verkörperte Jennifer Peterson taugt für diese Rolle, dafür freut sie sich zu diebisch über Marlas vermeintlich bevorstehenden Untergang.
So ungewöhnlich es auch ist, wenn es keine klar Identifikationsfigur gibt: Auch das habe ich sehr genossen.
Schließlich gelingt es Regisseur und Drehbuchautor J Blakeson sehr geschickt, dafür zu sorgen, dass wir Marla und Roman/Jennifer abwechselnd die Daumen drücken, obwohl wir eigentlich ganz genau wissen, was für skrupellose und gleichermaßen unsympathische Menschen das eigentlich sind.
Netflix bezwingt "The Mandalorian": Das sind die Golden-Globe-Gewinner 2021!In seinen besten Momenten erinnert „I Care A Lot“ da durchaus an „Gone Girl“ (übrigens ebenfalls mit Rosamund Pike), in dem David Fincher ebenso geschickt mit den wechselnden Sympathien des Publikums spielt.
Fast perfekt...
Die einzige Sorge, die mich umtrieb, als „I Care A Lot“ dann langsam auf das Finale zusteuerte, war: Wie bitteschön will Blakeson seinen Film zu einem befriedigenden Ende bringen? Denn genauso wenig wie eine der Figuren unsere Sympathie verdient hat, hat es eine von ihnen verdient, aus diesem Duell auf Augenhöhe als Sieger bzw. Siegerin hervorzugehen.
Dass dann Marla und Roman im Krankenhaus nebeneinander sitzen und eine Partnerschaft vereinbaren, war für mich daher das perfekte Ende: ein Waffenstillstand zwischen zwei gleichwertigen Kontrahenten und eine wunderbar böse Schlusspointe für eine brillante Satire, die das amerikanische Pflegesystem gnadenlos anklagt.
… aber eben leider nur fast
Dummerweise verpatzt Blakeson dann aber in buchstäblich letzter Minute doch noch das Finale. Denn das ganz am Schluss Feldstrom (Macon Blair) noch einmal auftaucht, den Marla zu Beginn des Films übers Ohr gehauen und kaltgestellt hat, mag zwar eine passende Klammer um den Film bilden. Und klar, dass Feldstrom Marla aus Verzweiflung und Rache ermordet, ergibt bei dieser misogynen, gewalttätigen Figur durchaus Sinn.
Doch gleichzeitig fühlt sich dieses Ende für mich auch so an, als hätten Blakeson und Co. hier auf den letzten Metern noch kalte Füße bekommen. Als hätte ihnen ein Hollywood-Studio noch das Zugeständnis abgerungen, wenigstens eine der bösen Hauptfiguren noch zu bestrafen, um das Publikum nicht allzu sehr vor den Kopf zu stoßen. Dabei genießen Filmemacher*innen bei Netflix eigentlich größere Freiheiten als anderswo, und man hat das Gefühl, dass solche Zugeständnisse sonst nicht nötig sind.
Hinzu kommt, und das ist besonders ärgerlich: Dass am Schluss nur die weibliche Hauptfigur (Marla) sterben muss und somit für ihre Taten bestraft wird, die männliche Figur (Roman) aber ungeschoren davon kommt, passt nicht zum sonst so feministischen Ton von „I Care A Lot“. So sägt Blakeson dann im Finale auch noch an einem weiteren Standbein seiner sonst so gelungenen Satire.