„So etwas wie in Nazi-Deutschland wäre in unserer aufgeklärten Zeit gar nicht mehr möglich“.
Eine heute noch genauso gefährliche Aussage wie 1967, als der Geschichtslehrer Ron Jones aus seinen aufgeklärten Schülern innerhalb einer Woche im so genannten Third-Wave-Experiment eine faschistoide Bewegung formte. Zwei Filme, ein Buch und jetzt auch die deutsche Netflix-Serie „Wir sind die Welle“ basieren auf den realen Vorkommnissen dieses Versuchs, dessen Hintergründe wir im nachfolgenden Video noch einmal erklären (und die demnächst auch Gegenstand der TV-Dokumentation „The Invisible Line - Die Geschichte der Welle“ sein werden).
Vielen sind der Roman von Morton Rhue und der Film „Die Welle“ mit Jürgen Vogel dabei noch aus dem Deutschunterricht bekannt. Denn Regisseur Dennis Gansel und sein Co-Autor Peter Thorwarth verlegten die Handlung 2008 nach Deutschland, dem Ursprungsland des Nazi-Terrors, und schloss die lehrreiche Geschichte mit einem fiktiven und tragischen Ende. Gansel und Thorwarth fungieren nun bei „Wir sind die Welle“ als Produzent.
Doch trotz dieser Kontinuität und der gleichen Inspirationsquelle verfolgt die Serie einen gänzlich anderen Ansatz als der Film oder dessen Vorlage. Und auch inhaltliche Anknüpfungspunkte gibt es keine. Hauptdarsteller Ludwig Simon fasst es gegenüber FILMSTARTS so zusammen: „Das ist eine ganz eigenständige Geschichte und die wird auch ganz eigenständig erzählt. In dem Film ist meine Rolle auch überhaupt nicht zu finden“.
"Wir sind die Welle" ist nicht wie der Film
Zunächst einmal gibt es in „Wir sind die Welle“ kein verführerisches Gruppenexperiment im eigentlichen Sinne. Die Welle ist hier eine spontan gegründete Untergrundorganisation von fünf Jugendlichen, die sich gegen gravierende gesellschaftliche Probleme wie Sexismus, Rassismus und Umweltverschmutzung und das angebliche Nichtstun der Politiker richtet und dabei immer radikaler vorgeht.
Der große Agitator ist kein kreativer Lehrer, der sich selbst mitreißen lässt, sondern ein mysteriöser und freidenkender Schüler, der einen ganz eigenen Plan verfolgt. Laut Dennis Gansel kam die Idee hierzu, als sich die Serienmacher im Vorfeld mit der doch sehr kritischen „Jugend von heute“ unterhielten.
Gansel hierzu gegenüber FILMSTARTS: „Unsere Generation wurde sehr kritisch gesehen, nach dem Motto: Findet ihr nicht, dass ihr die Welt ziemlich an den Rand gebracht habt; dass ihr die Dinge nicht mehr unter Kontrolle habt; dass mit der Wahl von Donald Trump das Unmögliche möglich wurde. Fake News und all diese Themen prasselten auf uns ein und wir sagten: Um Gottes willen, das muss so eine Serie gefälligst auch aufnehmen und liefern“.
"Die Welle" würde so heute nicht mehr funktionieren
Auch Ron Jones, mit dem sich Gansel vor „Wir sind die Welle“ beriet, habe diese Entwicklung erkannt: „Er hat gesagt: ‚Die Jugendlichen, mit denen ich zusammenarbeite, die wären wahrscheinlich für meine Welle gar nicht mehr so empfänglich. Das würde gar nicht mehr so funktionieren wie 1967, weil es so viele kritische Geister unter den heutigen Jugendlichen gibt, die sich selbst in Frage stellen‘“.
Diese Beobachtung begünstigt derweil einen weiteren und sehr zentralen Unterschied gegenüber dem Film: Die Welle ist keine rechte Bewegung mehr, sondern im Prinzip eine sich verselbständigende anarchische, links-ökologische Gruppierung, die unter anderem auch gegen die Missstände des kapitalistischen Systems protestiert.
Aufgrund der angespannten politischen Lage nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland, dem Aufstieg der AfD und der Sensibilität des Themas in Deutschland hat diese Entscheidung beispielsweise auf Twitter zu allerlei heftigen Reaktionen geführt und so unterschiedlichen Medien wie Bento und der Zeit Anlass zu Kritik geboten. Sollte sich die Serie bei dieser Vorlage nicht offen gegen rechts stellen? Stellt Gansel etwa Faschisten mit liberalen, linken und ökologischen Ideen auf eine Stufe?
Zumindest die Figur des Rahim (Mohammed Issa), durch deren Augen wir alltäglichen Rassismus sehen, und eine wenig subtile antagonistische Pseudo-AfD sprechen dagegen. Was Gansel erreichen will, bringt auch Hauptdarstellerin Luise Befort im Interview mit FILMSTARTS auf den Punkt, als sie über die Gemeinsamkeiten zwischen „Wir sind die Welle“ und dem Film aus dem Jahr 2008 spricht:
„Ich glaube, was diese beiden Geschichten trotz allem gemeinsam haben, ist, dass sie zeigen, wie schnell man sich in so einer Gruppendynamik verfängt und wie schwer es auch ist, dort wieder herauszukommen. Und beide Geschichten zeigen, wie wichtig es ist, dass wir uns immer die Frage stellen sollten, wie wir handeln und ob wir unser Handeln noch mit unseren Werten vertreten können oder nicht“.
„Wir sind die Welle“ läuft seit dem 1. November 2019 auf Netflix.
Flach, flacher, "Wir sind die Welle": Darum lohnt sich die neue Netflix-Serie nicht