FILMSTARTS: Kam jemals der Gedanke auf, „nur“ einen Spielfilm aus dem Stoff zu machen?
Tom Tykwer: Nein, keine Sekunde. Wir haben uns zusammengesetzt, weil wir eine Serie machen wollten. Wir wollten sowieso eine Serie machen, es stand jetzt einfach an. Und das war so offensichtliches Serienmaterial, schon alleine deshalb, weil es zu dem Zeitpunkt auch schon mehrere Bücher gab. Auch gemessen daran, dass uns so vieles unter den Nägeln brannte, was in dem Roman gar nicht vorkommt, was wir aber gerne noch hinzufügen und ergänzend erzählen wollten, war das gar nicht denkbar. Aber wie gesagt: Wir haben es immer als einen „Film“ empfunden.
FILMSTARTS: Heißt das, dass es dadurch auch grobe Änderungen im Vergleich zur Vorlage gab?
Henk Handloegten: Ja, zunächst einmal ist es ja ein merkwürdiger Weg, dass man, aus einem 520-Seiten-Roman ein 900-seitiges Drehbuch macht. Normalerweise ist es ja andersrum – das fand Volker Kutscher auch schon sehr amüsant. Wir haben Sachen geändert, unter anderem die Hauptfigur: Charlotte Ritter kommt bei uns aus dem proletarischen Milieu, weil wir das Gefühl hatten, dass Berlin eine harte Arbeiterstadt war und auch teilweise immer noch ist und dass wir dieses Milieu, das bei Kutscher nur ganz am Rande vorkommt, ins Zentrum stellen wollten. Auch natürlich, weil wir Charlotte das Leben einfach so schwer wie möglich machen wollten. Ansonsten gibt es bei uns sehr viele Figuren, die es im Roman überhaupt nicht gibt oder Figuren, die im Roman nur ganz nebenbei vorkommen, wie zum Beispiel Greta. Den Namen haben wir von ihm [Volker Kutscher] und es gab die Figur auch schon, aber die spielt eigentlich überhaupt keine Rolle, bis hin zu völlig eigenen Handlungssträngen: Die schwarze Reichswehr hat keinen Plan, Stresemann zu ermorden, es gibt kein Giftgas und so weiter.
Achim von Borries: Für mich sind es inzwischen so etwas wie zwei parallele Universen. Volker Kutscher schreibt seine Romane und wir erzählen die Geschichte basierend auf diesen und auf seiner genauen Recherche, zum Beispiel zur Polizeiarbeit. Es gibt große Überschneidungen, wir sind sozusagen aus seinem Geist geboren. Und das Schöne ist, dass er uns die Freiheit gelassen hat, eben auch so mit seinem Stoff und seinen Figuren umzugehen und dass er es auch mag und sogar toll findet. Das war sehr beglückend, sehr großzügig, sehr toll.
FILMSTARTS: Wie erklären Sie es sich, dass „Babylon Berlin“ – eine deutsche Serie, die deutsche Geschichte behandelt – auch international so erfolgreich ist? Was macht die Geschichte so interessant?
Henk Handloegten: Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist eben einzigartig und ganz besonders bündelt sich das natürlich in Berlin. Und ich glaube, man muss auch einzigartig sein, um heute eine Serie machen zu können, weil es einfach wahnsinnig viele gibt. Es geistert ja immer diese Zahl von 420 Serien herum, die alleine in den USA pro Jahr gemacht werden und man fragt sich: Wer kann das alles gucken? Ich habe ziemlich lange in einer Videothek gearbeitet und ganz am Anfang hatte ich den Anspruch, alle Filme, die wir verleihen, müsste ich auch gesehen haben – und das war Mitte der 80er Jahre tatsächlich noch möglich. Ich hätte das schaffen können.
Achim von Borries: Für den Rest seines Lebens. [lacht]
Henk Handloegten: Das vielleicht nicht, aber wir hatten vielleicht 500 Filme, auch ganz viele Sachen, die mich überhaupt nicht interessiert haben. Aber ich war trotzdem der Meinung, ich müsste, wenn ich da hinter dem Tresen stehe, alles kennen.
Tom Tykwer: Auch viel Abseitiges. [lacht]
Henk Handloegten: Ja, aber diesen Anspruch, den kann heute ja niemand mehr erheben. Allein mit YouTube geht’s ja schon los.
Achim von Borries: Wenn man das übrigens geschichtlich betrachtet, sagt man, Dante in der Renaissance konnte noch eine Figur sein, die alles Wissen der Welt hatte. Und damit hörte es auf. [lacht]
Henk Handloegten: Aber um zur Frage zurückzukommen: Es war von Anfang an unsere Herangehensweise, auf Deutsch zu drehen, aus Deutschland heraus, ein deutsches Thema, was natürlich international jetzt von großer Resonanz geprägt ist, aber die Geschichte eben trotzdem auf Deutsch zu erzählen. Und dann liegt es natürlich nahe, etwas zu finden, was man auch nur so gut erzählen kann, wenn man in dieser Stadt schon so wahnsinnig lange lebt.
Achim von Borries: Und man kann vielleicht auch sagen, dass die Weimarer Zeit und dieses wilde Berlin der 20er Jahre, eben doch sehr viel mehr mit dem heutigen Berlin zu tun hat als vielleicht das Berlin der 30er, 40er, 50er, 60er oder 70er Jahre – gerade das geteilte Berlin. Damals, in den 20er Jahren, ist Deutschland in die Moderne aufgebrochen und heute, 100 Jahre später, sind wir allmählich dabei, dort anzukommen. Und dazwischen war einfach die Kosinuskurve zum Sinus – also das Tal, das auf jede Bewegung folgt, die Gegenreaktion – so stark, dass wir einfach 100 Jahre gebraucht haben, um uns davon zu erholen und auch als Gesellschaft allmählich wieder so international zu werden, so weit zu kommen, wie es damals schon war. Wenn man sich alleine die Kunst und Kultur anschaut…
Henk Handloegten: …oder die Gleichberechtigung der Frau.
Achim von Borries: Ja, die Stellung der Frau. Die Menschen waren schon sehr weit damals.
FILMSTARTS: Inwiefern war es Ihnen dabei wichtig, nicht nur eine Geschichte aus der Weimarer Republik zu erzählen, sondern sich auch an dem Kino aus dieser Zeit zu orientieren?
Tom Tykwer: Wir haben uns sehr viel angeguckt. Wir haben uns auch sehr früh vorgenommen, einen Film zu machen, der sowohl die Zeit würdigt, aber auch ganz und gar aus der Gegenwart kommt – und sich das sozusagen visuell und ästhetisch in den Dialogen und ganz vielen Details niederschlägt und das mit einer Sprache zu vereinen, die wir heute wichtig und gültig finden. Das hat sich auch deshalb angeboten, weil in der Zeit, in der wir spielen, unglaublich viel ausprobiert wurde, in der unglaublich viel in die Zukunft geblickt wurde, in der auch das, wo wir heute künstlerisch, musikalisch, architektonisch angekommen zu sein scheinen, geboren wurde. Es wirkte demnach plausibel, nicht nur eine Reminiszenz an filmische Formen von damals - auch im Erzählerischen zu bilden, sondern gleichzeitig auch den Gestus von heute zu bewahren. Wir wollten, dass man die Stadt in der Serie richtig erleben kann, wenn man rausgeht und guckt, wie sie aussieht – als wäre sie wirklich da. Das ist natürlich sehr aufwändig und sehr kompliziert, denn sie ist ja nicht da, aber diese Idee hat uns geholfen, das Ganze auch lebendig zu halten und nicht so staubig und historisierend – das war ein sehr wichtiger Ansporn.
FILMSTARTS: Sie haben „Babylon Berlin“ als Trio und nicht nach Episode, sondern nach Location gedreht. Das ist sehr außergewöhnlich. Wie war diese Erfahrung für Sie?
Achim von Borries: Wir haben zusammen das Drehbuch geschrieben. Klassischerweise würde man dann nach Episoden aufteilen, wir haben aber – auch aus Kostengründen – nach Drehorten aufgeteilt, sodass alle Episoden Teile von jedem haben. Insofern waren wir am Set nicht zusammen. Gott sei Dank, das hätte wahrscheinlich ein Hauen und Stechen gegeben [lacht]. Das kam erst später im Schneideraum. Das war nicht immer leicht, wenn man seine Szene gedreht hat, die dann irgendwie auch das Baby von einem ist, das man zwischen Stolz und Bangen den Freunden zeigt und die das dann ansehen und womöglich kritisieren oder komplett umschneiden wollen. Da muss man sich auch als Regisseur erst einmal dran gewöhnen. Es hat aber auch dazu geführt, dass sich bestimmte Aneurysmen oder Eigenarten gar nicht erst festsetzen konnten. Insofern war es eine enorme Bereicherung, sodass ich mich jetzt frage, warum man eigentlich nicht immer so arbeitet. Es ist viel besser! Du hast da auch mehr Spaß dran. Es gibt einfach Sachen, die kann Henk besser und es gibt Sachen, die kann Tom besser und das eine oder andere kann ich auch noch.
FILMSTARTS: Zum Schluss: Ein Film-Geheimtipp von jedem von ihnen, den vielleicht nicht jeder kennt?
Henk Handloegten: „Opfergang“ (1944) von Veit Harlan
Achim von Borries: „Barry Lyndon“ (1975) von Stanley Kubrick
Tom Tykwer: „Birth“ (2004) von Jonathan Glazer