An einem Filmset wird viel improvisiert – auch beim Interview. Da hält auch schon mal eine kleine Burgbrücke in der Mittagspause als Gesprächsort her, während André M. Hennickes Crewkollegen den idyllischen Blick über das niederösterreichische Thayatal und die frische Luft für eine Rauchpause nutzen. Wir sprechen über die Verfilmung, über Hesse, die Gesellschaft und ihre Veränderungen.
FILMSTARTS: Kanntest du das Buch vor dem Dreh?
André M. Hennicke: Ja, „Narziss und Goldmund“ haben wir als Studenten gelesen. Wir haben uns ja alle irgendwie identifiziert.
FILMSTARTS: Mit wem hast du dich denn identifiziert?
André M. Hennicke: Mit Goldmund! Ist doch logisch. (lacht)
FILMSTARTS: Hat sich hier am Set überhaupt irgendjemand mit dem frommen Geistesmensch Narziss identifiziert?
André M. Hennicke: Nein, warum sollte man das tun? Was spricht dafür, sich dem Zölibat zuzuwenden?
Mönch Lothar, der Sprengstoffterrorist
FILMSTARTS: Du spielst die Rolle des Lothar: Was ist das für ein Typ?
André M. Hennicke: Von der Dramaturgie her ist Lothar der Böse, der das ganze Konstrukt zur Explosion und alles auf den Punkt bringt, der die Leute dazu zwingt, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Ich spiele einen Fanatiker. Lothar ist eigentlich ein Sprengstoffterrorist. Das hat für mich schon Parallelen zum Fanatismus, wenn man aufhört, dem anderen zuzuhören und dessen Meinung nicht mehr wahrnimmt. Es geht um Wahrnehmung.
FILMSTARTS: Werden im Film Parallelen zur heutigen Zeit gezogen, vielleicht auch nur unterschwellig?
André M. Hennicke: Die Parallelen entstehen ja immer durch Vergleiche, wenn man sich mit dem vergleicht, was da oben passiert, mit einer Figur. Man sucht sich eine Identifikationsfigur. Wenn man im Kino sitzt, wird man sich fragen: „Wer bin ich eigentlich? Wie lebe ich? Und wo will ich hin? Was habe ich vor? Habe ich Träume? Habe ich Werte?“ Wir verbreiten keine Message, das ist die Message: „Überlege, was für dich im Leben wichtig ist und wie du mit den anderen klarkommst. Und lass‘ ein bisschen Liebe zu.“
FILMSTARTS: Kannst du dich noch an deine Gedanken erinnern, als du das Buch zum ersten Mal gelesen hast?
André M. Hennicke: Das ist so lange her. Das war ziemlich anstrengend. Man las sich so durch das Buch, weil man als Student mitreden wollte. Ich habe auch vor dem Schauspielstudium viel gelesen, sehr gern sogar. Ich lese auch jetzt noch viele Bücher, ich finde es immer noch interessant. Das größte Wissen bekomme ich über das Lesen und nicht über Wikipedia oder Beiträge im Internet. Dort erhalte ich Inspirationen und schnelle Antworten auf schnelle Probleme. „Wie viele Einwohner hat Nepal?“ Das kann ich im Internet nachschlagen. Tieferes Verständnis bekommt man nur durch tieferes Studium, indem man sich komplex mit den Dingen beschäftigt. Da gehörten neben Hermann Hesse noch ein paar andere dazu. Thomas Mann, Dostojewski…
Ich schreibe ja auch selbst, habe einen Krimi herausgebracht [Ann. der. Red.: „Der Zugriff“ (2010)]. Es geht darum, dass das eine Art Ausdrucksform für mich als Künstler ist. Ich spiele eine Rolle, da kann ich nicht viel ausdrücken. Da nimmt mich der Regisseur und presst mich in diese – Schublade würde ich nicht sagen – aber Rolle. Ich kann in dieser Rolle nicht viel machen. Ich bin hier das Böse, das muss ich füllen. Ich darf nicht versuchen, da noch eine andere Seite reinzuspielen, die ich in dem Moment erwische. Das ist nicht meine Geschichte, es ist die Geschichte dieser beiden jungen Männer Narziss und Goldmund, die sich für etwas entscheiden, einander lieben, sich aber nicht zu dieser Liebe bekennen können.
Religion als Realitätsersatz
FILMSTARTS: Kannst du eigentlich was mit Religion anfangen?
André M. Hennicke: Ich denke, es ist ein gutes Regulativ. Ich gehe ja nicht von mir aus. Ich bin viel in der Welt unterwegs, habe dort viel gedreht und sehe überall diese Armut. Ich würde sagen, 70 Prozent der Menschen leben ein ziemlich anstrengendes und schwieriges Leben. Und wenn man dieses Leben als indischer Schweißer an irgendwelchen Schiffswracks lebt, wo jede Woche ein paar Leute verunglücken, und du weißt, du wirst da nie wegkommen, deine Kinder vielleicht auch nicht, weil du nie viel Geld haben wirst, dann ist das aussichtslos und hoffnungslos. Da braucht es ein Regulativ, einen Traum, wo ich mir sage: „Na ja, danach werde ich ein schönes Himmelreich erleben.“ In dem Sinne ist es wichtig, dass sich die Menschen an etwas Größerem festhalten können. Sie glauben an etwas Größeres als an ihr kleines, erbärmliches Leben. Die Hoffnung ist wichtig. Sie würden sonst alle auf der Straße herumlaufen, Autos anzünden und den Reichen die Kehle durchschneiden. Immer wenn die Menschen keine Hoffnung mehr haben, werden sie aggressiv und gewalttätig.
FILMSTARTS: Und du benötigst das alles nicht?
André M. Hennicke: Ach, ich komme aus einer Atheisten-Familie, aus der DDR. Ich habe an die große Aufgabe des Proletariats geglaubt. Aber irgendwie fuhren die im Westen immer die besseren Autos als im Proletariat. Mercedes, VW … und wir fuhren Trabbi, und auf den musstest du 20 Jahre warten, dieses Pappding. Da ist mir das Wertesystem allmählich durcheinander gekommen.
Die Fragen sind immer dieselben
FILMSTARTS: Das Kino ändert sich über die Zeit auch immer wieder. Ist da noch Platz für Hermann Hesse und einen modernen „Narziss und Goldmund“?
André M. Hennicke: Die Fragen sind immer dieselben, vereinfacht ausgedrückt. Die Leute suchen immer noch nach dem Sinn. Es herrscht eine große Sinnlosigkeit in der Welt, weil das Internet da ist. Früher ergab das alles Sinn, weil wir von dem ganzen Scheiß nichts erfahren haben. Ich habe mal drei Tage im Odenwald gedreht, da gab es kein Fernsehen und ich habe nur YouTube geschaut. Danach war ich so erledigt, überfordert und überlastet. Man kann Dinge bei YouTube nicht hinterfragen, da wirst du verrückt, dann geh‘ lieber auf Wikipedia oder wissenschaftliche Portale. Die Menschen werden einfach jeden Tag so zugeballert mit diesen Informationen, das ist wie eine Lawine, die sie nicht verarbeiten können. Unsere Seele und Psyche hängt ja noch irgendwo im Mittelalter fest. Die überraschende Entwicklung der Technik hat uns völlig eingeholt, wir bauen jetzt Computer, die schneller denken und handeln als wir – und unsere Aufgaben übernehmen. Werden die Computer irgendwann selbstständig handeln? Werden sie uns irgendwann nicht mehr brauchen? Ich sage: ja.
„Narziss und Goldmund“ startet am 2. Januar 2020 in den deutschen Kinos.