Platz 70: „Der Mann mit der Kamera“
(Dziga Vertov, Russland 1929)
Was für ein Geniestreich: Dziga Vertovs experimenteller Dokumentarfilm „Der Mann mit der Kamera“ aus dem Jahr 1929 erschließt in knappen 68 Minuten eine ganze Gesellschaft. Ein Mann pilgert mit einer Filmkamera bewaffnet durch eine russische Großstadt und fängt scheinbar beiläufig das Alltagsgeschehen ein – Arbeit, Sport, eben alle möglichen Dinge, die wichtig erscheinen oder einfach so passieren. Aus der genialen Montage entsteht nicht nur betörende Poesie, sondern ein scharf gezeichnetes Zeitdokument des russischen Alltags - in einer Ära des gesellschaftlichen Umbruchs. Die Nachwehen der Februar- und Oktoberrevolution von 1917 waren immer noch zu spüren, das Zarenreich verfallen, der Marxismus hatte das Land erobert. Vertovs Meisterwerk ist ein politischer Film zwischen subtiler Agitation und reflexiver Dokumentation. Indem der Regisseur die Bilder von drei Städten - Kiew, Odessa und Moskau - verdichtet, schafft er elegant ein universelles Bild eines Riesenreichs auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Dziga Vertov war seiner Zeit mit „Der Mann mit der Kamera“ weit voraus.