Wie Malefiz ein langweiliges Märchen gerettet hat
Es ist nicht besonders überraschend, aber meine Kinder lieben Märchen. Von ihrem Großvater haben sie eine wunderschöne Ausgabe von Grimms Märchen in einem roten Einband geschenkt bekommen und eine ihrer Lieblingssagen ist – ich kann gar nicht genau sagen warum – „Schneeweichen und Rosenrot“. Dass „Dornröschen“ nicht unbedingt zu den Geschichten gehört, die sie immer und immer wieder hören wollen, kann ich hingegen gut verstehen, denn sieht man einmal von den nur vage versteckten Anspielungen auf Sexualität und dergleichen ab, ist es eine der schwächeren Erzählungen aus dem Grimm’schen Märchenkosmos: Niemals glaubt man die Prinzessin wirklich in Gefahr, niemals ist die böse Fee – die ja unmittelbar nach ihrem Fluch völlig aus der Geschichte verschwindet – eine echte Bedrohung.
Umso überraschender ist deshalb die erste Begegnung mit der Disney-Verfilmung von 1959. Man spricht ja etwas bösartig von Disneyfizierung, wenn eine Geschichte so lange weichgespült wird, bis nur noch harmlose Unterhaltung übrigbleibt. Aber diese Polemik geht zumindest am Zeichentrickfilm-Klassiker von Clyde Geronimi, der jetzt neu auf DVD und Blu-ray erschienen ist, völlig vorbei: Die Verfilmung macht das Märchen erst reizvoll und fügt ihm mit der bösen Fee Malefiz (die zum spannendsten Charakter des Films gerät) einiges an Tiefe, Schatten und Grusel hinzu. (Angelina Jolie hat dieser Figur in „Maleficent“ gerade ein Denkmal gesetzt, in dem diese Rolle wiederum ganz anders interpretiert wird. Auch dieser Film, eher für ältere Kinder zu empfehlen, ist seit kurzem fürs Heimkino erhältlich.)
Die vermeintlichen Hauptfiguren, Prinzessin Aurora und Prinz Philip, bleiben auch in der Kinofassung ähnlich blass wie im ursprünglichen Märchen – allerdings glaubt man beim Schauen des Films tatsächlich, dass ihr Abenteuer auch schiefgehen könnte. Die Dornenhecke taucht in dieser Version zwar erst sehr spät auf, dafür muss der Prinz aus Malefiz’ Kerker befreit und ein Drache besiegt werden. So wird aus „Dornröschen“ am Ende doch noch eine richtig spannende Geschichte, wer hätte das gedacht? Das ist natürlich eine der besten Voraussetzungen, um Kinder für einen mehr als 50 Jahre alten Klassiker zu interessieren, aber der Disney-Trickfilm hat auch noch eine Menge ästhetische Qualitäten zu bieten: Licht, Schatten und Farbgebung greifen in jeder Szene wunderbar ineinander. Die Hintergründe sind atemberaubend detailliert und erinnern an mittelalterliche Tableaus. Dadurch fallen zwar die Figuren gelegentlich ein wenig aus dem Rahmen, aber so richtig spürbar wird das nur bei den drei guten und eben auch sehr bunten Feen, die so gar nicht zu einigen der düsteren Szenen passen wollen.
Während die eigentliche Handlung im Hintergrund weitergeht, diskutieren an einer Stelle im Vordergrund die Väter von Philip und Aurora darüber, ob ihre Kinder heiraten sollen, was in einem amüsanten Slapstick-Kampf endet. Das ist zwar als Witz gemeint, schließlich haben sich die Kinder bereits ineinander verliebt und natürlich obsiegt in einem Disneyfilm die Liebe. Trotzdem macht der Streit der Väter über die Kinder noch einmal deutlich, dass Aurora und Philip die Handlung von „Dornröschen“ in keinerlei Hinsicht aktiv beeinflussen – es sind letztlich die Feen, die guten wie vor allem die böse, die alles in Bewegung setzen und halten. Ohne Malefiz gäbe es hier nichts zu erzählen. Mit anderen Worten: „Dornröschen“ ist der perfekte Film, um Kinder an eine der Grundweisheiten des Kinos heranzuführen: Die interessantesten Figuren sind immer die Bösewichte. Denn nichts ist langweiliger als eine Liebesgeschichte ohne Dornen.
Rochus Wolff, Jahrgang 1973, ist freier Journalist und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern im Grundschulalter in Berlin. Sein Arbeitsschwerpunkt ist der Kinder- und Jugendfilm; seit Januar 2013 hält er in dem von ihm gegründeten Kinderfilmblog nach dem schönen, guten und wahren Kinderkino Ausschau.