Disney wird oft damit assoziiert, in seinen Filmen etwaige Inspirationsquellen abzuschwächen, wenn diese zu düster sind. So geht „Arielle, die Meerjungfrau“ deutlich fröhlicher aus als bei Hans Christian Andersen, und in „Cinderella“ wird weitaus weniger Blut vergossen als im ursprünglichen Märchen.
Gerade daher sticht es hervor, wenn ein Disney-Film schauriger und härter daherkommt, als andere Adaptionen: Der MGM-Klassiker „Der Zauberer von Oz“ gilt als eines der magischsten und schönsten Musicals der Filmhistorie – und ausgerechnet diese beschwingte Geschichte wird in Disneys „Oz – Eine fantastische Welt“ düster weitergesponnen. „Oz – Eine fantastische Welt“ ist via Disney+ abrufbar.
Am grimmigen Fantasy-Epos haben sich keine der „Zauberer von Oz“-Verantwortlichen beteiligt. Allerdings achteten Regisseur/Autor Walter Murch (Co-Autor von George Lucas' Regiedebüt „THX-1138“) und sein Schreibpartner Gill Dennis („Walk The Line“) darauf, dass ihr Film sinnvoll an „Der Zauberer von Oz“ anschließt.
Zudem zahlte Disney eine Lizenzgebühr an MGM, um die rubinroten Schuhe verwenden zu dürfen, die zur Ikonografie des Musical-Meilensteins gehören, obwohl sie nicht in den von L. Frank Baum verfassten „Oz“-Buchvorlagen auftauchen. Insofern lässt sich „Oz – Eine fantastische Welt“ als semi-offizielles Sequel des Klassikers mit Judy Garland bezeichnen.
Solltet ihr den daher zur Vorbereitung (nochmal) gucken wollen: „Der Zauberer von Oz“ ist auf vielen Plattformen als VOD erhältlich, darunter bei Prime Video*.
"Oz – Eine fantastische Welt": Das Leid nach dem Happy End
Sechs Monate nach den Ereignissen aus „Der Zauberer von Oz“ ist das Leben der achtjährigen Dorothy Gale (Fairuza Balk) der reinste Albtraum: Die Familienfarm ist verwüstet, weshalb die am Hungertuch nagenden Gales eine Hypothek aufnehmen müssen. Onkel Henry (Matt Clark) ist körperlich lädiert und mental gebrochen, und Tante Em (Piper Laurie) ist schlecht auf ihre von Munchkins und anderen Wunderwesen fabulierende Nichte zu sprechen.
Also wird Dorothy in eine vom Elektroschocktherapeuten Dr. Worley (Nicol Williamson) geleitete Nervenheilanstalt eingeliefert. Dort soll das Kind zur Vernunft gebracht werden. Als ein Sturm für Chaos in der schaurigen Klinik sorgt, kann Dorothy fliehen – und erwacht bald darauf im zerstörten Oz, das dringend ihre Hilfe benötigt...
Netflix-Tipp mit 4 Marvel-Stars: Dass dieses Sci-Fi-Horror-Meisterwerk in Deutschland nie ins Kino kam, ist eine Frechheit!Armut, Depressionen, Traumata und die Androhung von Elektroschocks in der realen Welt, verwüstete Bauten, desolate Landschaften und Despoten, in der vermeintlich Eskapismus bietenden Fantasiewelt: Mit dieser grimmigen Stimmung und einer Vielzahl an schaurig-schrägen Ereignissen nähert sich „Apocalypse Now“-Filmeditor Munch dem Tonfall an, den Baum in zahlreichen „Oz“-Bücher vorgab.
Die Abkehr von den frohen Farben, munter-verspielten Figuren und optimistischen Lektionen des MGM-Musicals kommt also nicht von ungefähr. Trotzdem hat diese Trostlosigkeit einen gewissen Kulturschock-Effekt – gerade, weil es halt ein Disney-Film ist und die Nähe zum Musical-Klassiker gesucht wird.
Eine begnadete Jungdarstellerin und ihr grausiges Umfeld
Der Absturz ins Finstere spiegelt sich nicht nur darin wider, dass Dorothy deutlich groteskeren Wesen begegnet als im (semi-offiziellen) Vorgänger, und die Gefahren, in die sie stolpert, drastischer und aufreibender inszeniert werden. Allein schon die zentrale Performance ist aus gänzlich anderem Holz geschnitzt: Garlands bezauberte Verwunderung weicht einer beklommenen, erschöpften und sich verloren fühlenden Dorothy. Fairuza Balk sieht nicht einfach bloß verängstigt aus, in zahlreichen Szenen sind ihre Augen leicht aufgequollen, als würden ihr jeden Augenblick besorgte Tränen die Wangen hinunterkullern.
Und dennoch ist es glaubwürdig, dass dies dieselbe Dorothy ist wie in Victor Flemings oft kopiertem Technicolor-Traum: Unter ihrer Furcht und ihrem Kummer ob all der Zerstörung und Panik um sie herum pocht ein gütiges, fürsorgliches Herz, wodurch Dorothy als gutes, sich nach Glück und Erfüllung sehnendes Kind gekennzeichnet wird, das mit einer überwältigenden Lebenslage hadert.
Dieser Thriller von Martin Scorsese wird viel zu oft übersehen – dabei ist er die Vorlage für eine der besten "Simpsons"-Folgen!Dass Balk all dies auszudrücken vermag, ist beeindruckend. Noch beeindruckender ist, dass sie diese Emotionen über weite Filmstrecken quasi allein stemmen muss, ist sie doch oft allein von Puppen, Animatronics und einem Huhn umgeben. Und wenn sie denn mal menschliche Co-Stars hat, dann sind sie so unnahbar wie die prunkvoll lebende Prinzessin Mombi (mit erschütterndem Gänsehautfaktor gespielt von Jean Marsh).
Dramaturgisch mag „Oz – Eine fantastische Welt“ etwas holpern, da Dorothy etwas ungalant von einer Mini-Quest zur nächsten gereicht wird. Und für ein Regiedebüt eines berühmten Filmeditors wirkt der Schnitt dieses Fantasy-Schauerspektakels sonderbar ungeschliffen. Vielleicht liegt das auch einfach an der nicht gerade reibungslosen Produktionsgeschichte des Films.
Aber: Diese Schwächen werden vom skurril-denkwürdigen Figurendesign und der melancholisch-düsteren Ästhetik der Sets effektiv abgefedert. Nicht zuletzt, weil der Look des Films so nahtlos Dorothys Innenleben abbildet, mit der man dank Balks Darbietung so sehr mitfiebert. Das dichte, dissonante Klangbild des Films und David Shires eklektischer, von aufreibend über besorgt bis triumphal reichender Score intensivieren diese rau-sehnsüchtige Erzählung enorm: Dieses Mal kann Dorothy vor ihren Sorgen nicht fliehen – sie muss sie fundiert verarbeiten, damit es besser wird.
Nichts für kleine Kinder: Dieser Disney-Film war lange nur gekürzt erhältlich – mittlerweile gibt's ihn uncut auf Disney+!*Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diese Links oder beim Abschluss eines Abos erhalten wir eine Provision. Auf den Preis hat das keinerlei Auswirkung.