Man kennt das: Wenn ein Film mit Verweisen auf andere Filme oder mit sonstigen Popkultur-Referenzen aufwartet, die man in Unkenntnis des gehuldigten Werks nicht versteht, macht das Schauen – zumindest in diesen Szenen – nur halb so viel Spaß. So etwas wie Quentin Tarantinos „Once Upon A Time In Hollywood“ ist wohl ein Paradebeispiel dafür, dass ein Guckerlebnis maßgeblich davon profitiert, wenn man über die zahlreichen Filme, auf die der Kino-Junkie darin anspielt, halbwegs Bescheid weiß.
Aber auch schon kleine Anspielungen und Easter-Eggs können den Filmgenuss bereichern. Nicht ohne Grund wird von Filmemacher*innen gerne darauf zurückgegriffen. In dem Moment, in dem ich eine mal mehr, mal weniger versteckte Referenz erkenne und verstehe, fühle ich mich als Teil eines erlesenen Kreises und freue mich umso mehr über das Gezeigte, schließlich scheint da jemand genau zu mir und meinen Interessen zu sprechen. Fans von Comic-Blockbustern können davon ein Lied singen. Umgekehrt kann es jedoch auch für Frust oder zumindest Schulterzucken sorgen, wenn ein solcher Verweis auf taube Ohren (und/oder blinde Augen) stößt.
Ein wenig ging es mir so bei einem Detail im spaßigen Highspeed-Actioner „Bullet Train“ von „John Wick“- und „Deadpool 2“-Macher David Leitch, der 2022 dank seiner aberwitzigen (und blutigen) Action, seines lässigen Humors und eines grandios aufgelegten Brad Pitt zu meinen Lieblingsfilmen des Jahres zählte. Denn erst als ich später in die gigantische Welt von „Thomas, die kleine Lokomotive“ abtauchen sollte, erschloss sich mir „Bullet Train“ in Gänze. Und das habe ich meinem gerade mal zweijährigen Sohn zu verdanken...
Ein Killer mit Vorliebe für "Thomas, die kleine Lokomotive"
Alle, die „Bullet Train“ gesehen haben, wissen sicher, worauf ich anspiele: Profikiller Lemon (großartig: Brian Tyree Henry) treibt seinen Partner Tangerine (nicht minder großartig: Aaron Taylor-Johnson) immer wieder in den Wahnsinn, weil er ständig über „Thomas, die kleine Lokomotive“ philosophiert. Doch das hat einen Grund: Wie Lemon selbst erklärt, hat er alles, was er über Menschen weiß, bei der kultigen britischen Kinderserie gelernt. Mit dem Wissen um die prototypischen Eigenschaften der verschiedenen Lokomotiven kann er seine Mitmenschen besser einschätzen, und teilt ihnen mittels der „Thomas“-Sticker ihre entsprechenden Lok-Pendants zu.
Das habe ich bei der ersten Sichtung des Films einfach mal so hingenommen, wünschte mir aber insgeheim schon, dass sie eine andere Kinderserie hierfür herangezogen hätten. „Thomas, die kleine Lokomotive“ war mir nur entfernt ein Begriff, sodass ich hier fast nur Bahnhof verstand (wer bitteschön sind Gordon, Percy und wie sie nicht alle heißen?). Und im Alter von 33 Jahren war ich aus eigenem Antrieb nicht unbedingt erpicht darauf, mich nun noch extra mit der 24 (!) Staffeln starken Kinderserie zu befassen.
Natürlich nimmt der Film einen hier ein Stück weit an die Hand, auch weil der „Thomas“-Spleen von Lemon nicht bloß ein Gag bleibt, sondern später noch ganz essentiell für die Handlung wird. So bekommen wir auch ohne tieferes Fachwissen mit, dass eine Einstufung als Diesel offenbar Ärger bedeutet, was Tangerine gegen Ende letztlich dabei hilft, eine der wahren Schurk*innen des Films zu entlarven.
Die ganze Tragweite wurde mir aber erst bewusst, als mein Sohn Lemons Lieblingsserie zu seiner eigenen erkoren und mich dabei natürlich zwangsläufig mitgerissen hat. Schon von klein auf (also noch kleiner als 2!) zeichnete sich bei ihm eine Faszination für Züge ab (ICE bzw. „IhhEh“ war eines seiner frühen „Worte“). Naja, immerhin nicht „Paw Patrol“, denke ich erleichtert heute noch. Jedenfalls war es nur eine Frage der Zeit, bis uns diese regelrechte Obsession dann zu Thomas und seinen Freunden bringen sollte. Aktuell ist ein Tag nicht komplett, wenn wir nicht mindestens eine Folge lang mit den ebenso bunten wie verpeilten Dampf- und Dieselloks über die Schienen der kleinen Insel Sodor gerattert sind. Den Titelsong summe ich seitdem im Grunde durchgehend bei der Arbeit vor mich hin – und natürlich erst recht beim Schreiben dieses Artikels.
Und der tolle Nebeneffekt für mich: Langsam, aber sicher wurde auch ich zu einem „Thomas“-Experten. Auch ich erkannte mehr und mehr typische menschliche Stärken und Schwächen in den Lokomotiven, die ich auf mein Umfeld übertrug (meine Freundin ist übrigens voll die Emily!). In gewisser Weise wurde ich selbst zu Lemon (bisher zum Glück aber ohne den mörderischen Job). Umso besser konnte ich mich in ihn und seine von „Thomas“ geprägte Sicht auf die Welt bei einer erneuten Sichtung von „Bullet Train“ hineinversetzen.
Vom "Thomas"-Noob zum "Thomas"-Experten
Ich wusste plötzlich nicht nur genau, wovon Lemon redet, sondern konnte für mich jetzt zudem die Leerstellen füllen, auf die er nicht eingeht. Ja, Gordon hört selten auf andere und ist tatsächlich die stärkste Lok auf Sodor – und zwar weil er den schweren Expresszug der Insel durch die Gegend zieht und damit eine ganz besondere Verantwortung hat (das passt durchaus irgendwie zu Lemons Partner Tangerine). Und ja, der hinterlistige Diesel selbst sorgt (trotz einiger relativierender Folgen) oftmals für Schwierigkeiten und stachelt die anderen, eigentlich doch recht umgänglichen Dieselloks oftmals zu Sticheleien gegen Thomas und die Dampfloks an (und wenn ihr jetzt denkt, „Das sind ja krassere Konflikte als bei ‚Game Of Thrones‘!“, lasst euch gesagt sein... Nein, sind es nicht, da wäre jetzt fast der D-Zug mit mir durchgegangen).
Da war sie jedenfalls wieder: Diese Freude darüber, etwas in einem Film wiederzuerkennen, eine Anspielung voll und ganz zu durchdringen und in diesem Fall auch wirklich zu verstehen, wie eine der Figuren tickt. Die zuvor mir gleichgültigen „Thomas“-Szenen machten mit meinem neuen Wissen die „Bullet Train“-Erfahrung für mich noch runder und bereiten mir in Verbindung mit dem herrlich bekloppten Killer-Duo Lemon und Tangerine inzwischen so viel Vergnügen, dass sie für mich zu den vielen Highlights des Actioners gehören. Nicht zuletzt weil ich dabei nun immer an meinen wundervollen Sohn denke, was mir ohnehin stets ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Ich muss mich daher schon sehr zurückhalten, ihm zum Dank nicht direkt „Bullet Train“ als seinen ersten Film zu zeigen (bei dem er mir dann sicher noch viel mehr über Thomas und Co. erklären könnte). Aber vielleicht warten wir damit dann doch noch ein KLEIN wenig länger, hat die Killer-Farce ihre 16er-Freigabe doch redlich verdient...
Ich brauche kein "Fluch der Karibik 6", egal ob mit oder ohne Johnny Depp: Verfilmt lieber dieses Videospiel-Meisterwerk!