Es schien eine sichere Sache zu sein: Nach dem Erfolg der ersten drei „Fluch der Karibik“-Teile trommelte man das verantwortliche Trio erneut zusammen – Hauptdarsteller Johnny Depp, Produzent Jerry Bruckheimer und Gore Verbinski. Nachdem sie das Piraten-Genre wachgerüttelt haben, wollten sie das Western-Genre erobern.
Doch nach Abzug sämtlicher Kosten riss „Lone Ranger“ ein Loch von 160 bis 190 Millionen Dollar in Disneys Finanzen. Damit gilt er als einer der größten Flops der Geschichte – und auch die Kritiken fielen zumeist harsch aus. Allerdings hat er nicht zuletzt dank seines herausragenden Finales auch lautstarke Fans! Falls ihr das Western-Epos nachholen oder ihm eine neue Chance geben möchtet: „Lone Ranger“ ist auf Disney+ abrufbar.
"Lone Ranger": Eine verzerrte Reflexion eines verzerrenden Genres
1933 auf einem Rummel: Ein Junge (Mason Cook) begegnet dem Comanchen Tonto (Johnny Depp). Seinem schwindenden Erinnerungsvermögen ebenso zum Trotz wie den vom Knirps geäußerten Moral- und Logikfragen, berichtet Tonto vom integren, aber ungelenken und naiven Anwalt John Reid (Armie Hammer). Der wird 1869 wider Willen zum Revolverhelden, der den Kannibalen Butch Cavendish (William Fichtner), den Eisenbahnmagnaten Latham Cole (Tom Wilkinson) und den Kavalleristen Jay Fuller (Barry Pepper) aufhalten muss.
Es ist eine Räuber- und Cowboypistole über eine Natur im Ungleichgewicht, eine verheerende Verschwörung und zerstörerischen Fortschritt. Deren Tonalität springt wild umher, als hätten Verbinski sowie die Autoren Justin Haythe („Zeiten des Aufruhrs“), Ted Elliott & Terry Rossio („Fluch der Karibik“) die Gesamtheit des Western-Genres in einen einzigen Film gepresst:
Von John Ford über Sam Peckinpah bis Sergio Leone, von naivem Spektakel über Western-Romantik und kindlicher Komödie hin zu nachdenklichen Spätwestern. Da steht dann halt ein Pferd auf dem Baum, kurz nach einem Massenmord – getrennt von den fassungslosen Kommentaren eines Kindes. Dieses tonale Gepolter ist der große Streitpunkt an „Lone Ranger“.
Dieser Disney-Film hat Generationen verstört, ist bei uns aber völlig unbekannt - ein Streaming-Tipp!FILMSTARTS-Autor Carsten Baumgardt etwa bemängelt in seiner Zwei-Sterne-Kritik: „,Lone Ranger´ soll ein Familienpublikum mit Kindern unterhalten, aber gleichzeitig werden Körper durchsiebt, Herzen herausgerissen und Menschen skalpiert. Das kann nicht zusammenpassen!“ Eine verständliche Meinung, der unter anderem der Verfasser dieses Artikels respektvoll widerspricht: Es soll nicht zusammenpassen!
Die zentrale „Lone Ranger“-Handlung ist das absurde Hirngespinst eines alternden, verwirrten und von Kummer durchzogenen Erzählers, dem die bittere Wahrheit über die amerikanische Geschichte am Herzen liegt – der aber einsehen muss, dass sein Publikum lieber Zerstreuung und einfache Antworten hätte.
Verbinski singt somit ein Lobgesang auf das facettenreiche Westernkino und rechnet erbittert mit den Implikationen und Folgen eines Genres ab, das kontinuierlich die Historie verzerrt und oftmals falsche Feindbilder setzt. Mit dieser Hassliebe ist „Lone Ranger“ für den Western das, was Damien Chazelles „Babylon“ für Hollywood darstellt – seines Zeichens ebenfalls ein spaltender, ambitionierter Flop.
Das Finale: Ein gigantischer Triumph
Mit seinem gewaltigen Schlussakt zollt „Lone Ranger“ sogar einem Film Tribut, der aus der in „Babylon“ zelebrierten Stummfilmära stammt: Buster Keatons „Der General“, eine Actionkomödie, die einst von Presse und Publikum abgestraft wurde. Mittlerweile wird sie dank ihrer waghalsigen Stunts als Klassiker verehrt – und inspirierte neben „Lone Ranger“ auch die turbulente Lokomotiven-Action in „Mission: Impossible – Dead Reckoning“.
Während „Der General“ im Bürgerkrieg spielt und aus Sicht der Südstaaten erzählt ist, darf Tonto einen feierlichen Showdown gegen Rassismus, Kapitalismus und Korruption spinnen, der zu schön ist, um wahr zu sein: Vom Justizgebäude aus stürzt sich der verwegene Held, zu dem John Reid aufgestiegen ist, mit Tontos Hilfe in eine Jagd aufs Böse. Es entbrennt ein sich sich auf zwei Zügen abspielendes Wechselbad aus coolen Stunts, schrägen Slapstick-Gags und gewitzten Charaktermomenten.
Die rasanten, eindrucksvollen Bilder von „Ring“-Kameramann Bojan Bazelli ergeben dabei eine unzertrennliche Einheit mit den Klängen der berühmten Wilhelm-Tell-Ouvertüre und harmonischen Abwandlungen der zuvor disharmonisch etablierten, neuen „Lone Ranger“-Motive. Dieser mitreißende Spaß, mit dem Tonto Geschichtsrevisionismus betreibt, ehe er einen melancholischen Abgang hinlegt, ist eine inszenatorische Meisterleistung sowie Paradebeispiel für rhythmischen Schnitt.
Das benötigte lange, minutiöse Arbeit: Der Großteil der Filmmusik stammt von Hans Zimmer, doch das Finale wurde Geoff Zanelli übertragen, dessen Aufgabe es war, sich voll auf diese Sequenz zu konzentrieren. Also widmete sich der spätere „Pirates Of The Caribbean: Salazars Rache“-Komponist ihr bereits vor Drehbeginn, indem er sich an animierten Storyboards orientierte und an ihnen mit Verbinski sowie den Filmeditoren James Haygood („Fight Club“) und Craig Wood („Fluch der Karibik“) weiter feilte.
Nachdem die Sequenz abgedreht war, werkelte Zanelli zwei weitere Monate ausschließlich an der musikalischen Untermalung des „Lone Ranger“-Finales. Zum Vergleich: Die komplette Musik zum ersten „Fluch der Karibik“ entstand innerhalb von nur zwei Wochen! Es ist ein ungeheuerlicher Aufwand für eine einzige Szene, doch er hat sich gelohnt:
Tontos Erzählung, die zunehmend den vor ihm stehenden Jungen erschüttert, drehte sich um das Gefühl einer Natur im Ungleichgewicht. Das vom Knirps herbeigesehnte, mit dem Vorherigen massiv brechende Finale bringt alles wieder ins Lot – begleitet von einem eingängigen Musikstück voller Tatendrang sowie melodischem Gleichgewicht. Wenigstens für knapp zehn Filmminuten herrschen Ordnung und Gerechtigkeit.
*Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diese Links oder beim Abschluss eines Abos erhalten wir eine Provision. Auf den Preis hat das keinerlei Auswirkung.