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    "Ekelhaft": Horror-Thriller sorgt mit toten Kindern und brutalen Verstümmelungen für flüchtendes Publikum
    Michael Bendix
    Michael Bendix
    -Redakteur
    Ob psychologischer Horror, Slasher-Film oder obskures Kleinod: Michael liebt das Horrorkino, seit er nach dem Schauen von „Blair Witch Projekt“ eine halbe Stunde lang wie versteinert auf dem Sofa saß.

    Mehr als 100 Menschen haben bei der Premiere von „The House That Jack Built“ entrüstet den Kinosaal verlassen. Doch steckt mehr hinter dem Film als nur schockierende Gewalt?

    Kaum jemand sorgt auf Filmfestivals so verlässlich für Aufruhr wie Lars von Trier. Wenn der Film selbst mal keinen Skandal hergibt, macht der Däne das einfach mit fragwürdigen Aussagen auf der Pressekonferenz wett (so geschehen etwa nach der „Melancholia“-Premiere in Cannes 2011, als er vom Festival nach einer provokanten Äußerung über Adolf Hitler zur Persona Non Grata erklärt wurde). Ansonsten stoßen seine Werke mindestens genauso sehr auf Ablehnung wie auf Bewunderung. So sorgte etwa der Horrorfilm „Antichrist“ (2009) durch explizite Sexszenen und heftige Gewaltausbrüche für flüchtende Zuschauer*innen und wahre Buh-Orgien.

    Nachgeforscht: Bei welchen Filmen war der Sex am Set echt? Bei welchen wurde nur simuliert?

    Und auch seinem bis dato letzten Kinowerk „The House That Jack Built“ (2018) erging es kaum anders – und das, obwohl der Regisseur zu Beginn seines Cannes-Comeback noch mit lautem Jubel und Standing Ovations begrüßt wurde...

    Die Begeisterung über die Rückkehr des Skandalregisseurs hielt allerdings nicht allzu lange an – bei manchen Zuschauer*innen sogar nicht einmal annähernd die gesamten zweieinhalb Stunden, die Lars von Triers Serienkiller-Epos in Anspruch nimmt.

    „The House That Jack Built“ ist aus der Perspektive eines soziopathischen Massenmörders erzählt (so gut wie nie: Matt Dillon), der dem mysteriösen Verge (Bruno Ganz) anhand von fünf vermeintlich zufällig ausgewählten „Ereignissen“ von seiner 60 Morde umfassenden Laufbahn berichtet.

    Zu seinen Opfern zählen unter anderem zwei Kinder, die er in einer Art nachgestelltem „Jagdritual“ vor den Augen ihrer Mutter ermordet, und eine von Riley Keough gespielte Frau, die er zunächst mit Demütigungen überzieht, um sie im Anschluss auf besonders sadistische Weise umzubringen. Einem nicht unbeträchtlichen Teil des Publikums war das zu viel: Eine kolportierte Hundertschaft verließ während der Galapremiere von „The House That Jack Built“ entrüstet den Saal – und viele der Gäste machten ihrem Unmut anschließend auf Twitter Luft.

    "Bösartig!", "Ekelhaft!"

    „Er [Lars von Trier] verstümmelt Riley Keough, er verstümmelt Kinder... und wir sind alle in formeller Kleidung da und sollen uns das ansehen?“, zitierte etwa Kyle Buchanan vom New York Magazine einen aufgebrachten Gast. Ein Vertreter des amerikanischen Online-Magazins Showbiz411 bezeichnete den Film als „bösartig“ und kam sogar zu dem Schluss, er hätte lieber gar nicht erst gedreht werden sollen. Ramin Seetodeh wiederum beobachtete einen Massenexodus, wie er ihn in Cannes noch nie gesehen habe – „Es ist ekelhaft!“, soll eine Frau geschimpft haben, während sie den Kinosaal verließ.

    Was inmitten all der Skandalmeldungen unterging: Von den Zuschauer*innen, die geblieben waren, bekam „The House That Jack Built“ im Anschluss an das Screening sechs Minuten lang tosenden Applaus. Unser Chef-Kritiker Christoph Petersen war zwiegespalten und stellte sich im Fazit seiner 2,5-Sterne-Kritik die Frage: „Ist ,The House That Jack Built' nun auf bockige Art brillant, eine platt-pubertäre Provokation oder die schonungslose Selbstanalyse eines Regisseurs mit einer ganzen Menge Probleme? Wahrscheinlich von allem ein bisschen.“

    Das trifft es ziemlich gut: Ähnlich wie im Vorgänger-Film „Nymphomaniac“ nimmt sich Lars von Trier das Serienkiller-Thema und seine Hauptfigur zum Anlass, sein Werk und seinen Ruf ausgiebig zu bespiegeln – dass Jack seine Morde als Kunstwerke ansieht und der Regisseur in einer Montage tatsächlich Ausschnitte aus seinen eigenen Werken zeigt, ist dafür nur der offensichtlichste Hinweis. Denn durchaus ironisch belegt er den Mördern mit sämtlichen Attributen, die ihm selber seit Beginn seiner Karriere anhaften: Jack ist manisch, manipulativ und misogyn, ein Neurotiker und Sadist.

    Ist "The House That Jack Built" eigentlich eine Komödie?

    Doch wo von Trier seiner eigenen nihilistischen Weltsicht in vorherigen Filmen mit Empathie trotzte, lässt er seine erste männliche Hauptfigur seit über einem Jahrzehnt am Ende in der Hölle schmoren. Verge fungiert auch als eine Art moralisches Korrektiv, indem er sich über Jacks Niederträchtigkeit empört, sein offensichtlich gestörtes Verhältnis zu Frauen hinterfragt und seine Erzählungen als selektiv und unzuverlässig entlarvt. Und wenn Jack seine ausgedehnten Exkurse aus der Kunst- und Weltgeschichte dazu nutzen will, seine eigenen Untaten zu rechtfertigen, lässt ihn der Film damit nicht durchkommen – denn der Killer wirkt nicht nur beängstigend, sondern teilweise auch wie ein ziemlicher Trottel.

    „The House That Jack Built“ einfach nur als bösartig zur Seite zu legen, greift also zu kurz – wie man auch immer zu diesem Film stehen mag, mit dem sich von Trier formal wiederholt, der im Tonfall uneben ist und teilweise auch ziemlich redundant. Der aber auch damit überrascht, dass er teilweise sogar als Komödie durchgeht – wenn sich Jack in der zweiten Episode umständlich Zutritt zum Haus eines potenziellen Opfers verschafft, einen stümperhaften Mord begeht und aufgrund seiner Zwangsstörung immer wieder zum Tatort zurückkehrt, hat das fast die Qualität eines Sketches.

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