Der Name Lars von Trier ist Programm: Jeder neue Film der vergangenen Jahre gleicht einem Ereignis, jeder noch radikaler und schockierender als der vorherige. Dieses Image des Provokateurs kommt nicht von ungefähr: Mit Filmen wie „Idioten“ oder „Breaking the Waves“ war er Teil der DOGMA-Bewegung, die 1995 ein Manifest veröffentlichte, das den Regisseuren nur noch erlaubte, Filme unter Einhaltung bestimmter Regeln zu drehen.
So durfte keine Filmmusik verwendet werden, keine Action stattfinden, kein Genre bedient und der Name des Regisseurs zugunsten des Kollektivs nicht genannt werden. Was einen Lars von Trier dennoch nicht daran hinderte, sich mit provokanten Darstellungen z. B. von expliziten Sexszenen oder mit Figuren, die sich auf verschiedenste Weisen selbst aufopferten, einen Namen zu machen.
Dieses Image kann letztlich nicht nur auf sein filmisches Schaffen zurückgeführt werden, von Trier ist einfach jemand, der überall gerne polarisiert. Er spricht nicht nur offen über seine Depressionen, er bringt auch seine Schauspieler*innen an Grenzen, lässt sie sprichwörtlich ausbluten, was sogar so weit führte, dass Nicole Kidman nach „Dogville“ nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten wollte. Von den Filmfestspielen in Cannes wurde er 2011 nach positiven Äußerungen über Hitler und den Nationalsozialismus ausgeschlossen – er nahm dies später zurück, ein fader Beigeschmack bleibt.
Und was zudem bleibt, sind Werke, die immer wieder aufrütteln, mit Sehgewohnheiten brechen oder schockieren, wie z. B. „Dogville“ oder sein bis dato letzter Film „The House that Jack built“.
"Antichrist": Beklemmend, unangenehm und trotzdem sehenswert!
2009 hat auch „Antichrist“ in Cannes für Furore gesorgt: Die Kritiken waren gespalten und reichten von Bezeichnungen wie „plump“ bis hin zu „Meisterwerk“. Ich selbst werde nie vergessen, wie ich den Film im Rahmen einer Vorführung in der Uni gesehen habe. Aufs unangenehmste berührt rückten wir auf den harten Holzstühlen hin und her, konnten kaum hinsehen, hatten ein beklemmendes Gefühl in der Magengegend, das den ganzen Abend noch nachhallte.
Doch trotzdem (oder gerade deswegen) ist „Antichrist“ unbedingt sehenswert. Bevor ich euch verrate, warum ich euch diesen Psychothriller empfehle, noch die Info, wo ihr ihn ganz einfach sehen könnt - nämlich bei der VoD-Plattform der Bibliotheken Filmfriend. Mit einem Mitgliedsausweis einer der teilnehmenden Bibliotheken könnt ihr dort nämlich komplett kostenlos Filme streamen.
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Darum geht es in "Antichrist"
Ein Ehepaar hat leidenschaftlichen Sex und bemerkt dabei nicht, wie ihr kleiner Sohn sie beobachtet und anschließend aus dem Fenster stürzt. Sein Tod erschüttert das Paar in seinen Grundfesten: Vor allem sie (Charlotte Gainsbourg) ist von Trauer und Schuldgefühlen überwältigt. Er (Willem Dafoe) versucht, sie als Therapeut in der Trauerarbeit zu unterstützen.
Sie begeben sich in eine einsame Hütte im Wald namens Eden, wo sie sich ihren Ängsten stellen soll. Den letzten Sommer hatte sie dort mit ihrem Sohn verbracht, um an ihrer Dissertation über Hexenverfolgung zu arbeiten. Hier findet er ihre Notizen, die von Verstümmelungen und Folter der verfolgten Frauen zeugen. Immer weiter beginnt die Situation zu eskalieren, bis die beiden sich in einem verzweifelten Kampf zwischen Sex und Verstümmelung wiederfinden.
Ein Spiel mit dem Genre und unseren Gewohnheiten
„Antichrist“ ist gleich in mehreren Hinsichten eine Herausforderung: Was mit expliziten Hardcore-Porno-Sexszenen beginnt, wird zum Drama, wird zum Psychothriller, ja fast Horrorfilm. In fünf Akten wird der Zuschauer mitgeschleppt, muss irgendwie mitgehen bis zum großen Finale.
Schauspielerisch ist es, wie Verena Lueken damals in der FAZ schrieb, eine „Tour de Force“: Gainsbourg, die in Cannes die Goldene Palme für ihre Leistung erhielt, ist zuerst vor Schock und Trauer erstarrt, scheint im Wald kurz einen Moment der Genesung zu erleben, nur um dann vollends der Hysterie zu verfallen.
Abgerundet wird das Werk von malerisch komponierten, in Zeitlupe aufgenommenen Sequenzen, mit opulenter Musik von Händel unterlegt. Diese auf Hochglanz polierten Sequenzen, wie z. B. die Eröffnungssequenz, die zusätzlich in Schwarz-Weiß dargestellt wird, rücken den Film unweigerlich in die Nähe des Kunstfilms, um dann doch gebrochen zu werden.
Denn der Körper, der Exzess, zuerst leidenschaftlich, dann gewaltvoll, ist, was „Antichrist“ einen Rahmen gibt: Das Psychologische wird körperlich erfahrbar, die Figuren stoßen psychisch an ihre Grenzen, und ihre Körper sind es, die dafür bezahlen müssen.
Film als Grenzerfahrung
Der ganze Film ist durchtränkt von einer atmosphärischen Dichte, von einer Doppelbödigkeit, die einen vor Rätsel stellt. In fast jeder Einstellung scheint sich etwas Symbolisches zu verbergen, hinter das man nicht so richtig kommt. Da ist das Prasseln der Eicheln, das ständig umschwingende Wetter, die Natur, bis hin zur Frau selbst, die zur Hexe wird und auf einem Scheiterhaufen verbrennt.
Das Männliche vs. das Weibliche erfährt hier eine Umkehrung: Sie, die sich in Schriften über Folter und Hexenverfolgung verloren hat, sieht das Böse im Weiblichen, in der Natur. Er, der eigentlich rationale Part, verbündet sich mit selbiger: Die „drei Bettler“, die Krähe, der Fuchs und das Reh, sind gleichwohl fiktive Sternbilder, als auch Todesboten als auch seine rettenden Gehilfen.
Von Trier lotet Grenzen aus und bricht sie auf mehrere Weisen: Auf der Bildebene, auf der Ebene der Figuren und Körper, doch auch auf der Ebene der Erfahrbarkeit und des Zeigbaren: Er bringt den Zuschauer an eine Grenze. Die Verstümmelung der Körper, deren Zeuge man wird, lässt einen selbst mit einem unguten Gefühl zurück. „A film should be like a pebble in the shoe“ sagte der Regisseur einst selbst, und genau das ist „Antichrist“: Ein störender Kiesel im Schuh, eine Grenzerfahrung, die man unbedingt einmal gemacht haben sollte.
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