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    Die Mitte
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Mitte
    Von Carsten Baumgardt

    Wo liegt der geographische Mittelpunkt Europas? Die Frage sollte sich mit den technischen Möglichkeiten der heutigen Zeit problemlos beantworten lassen. Dass dem keineswegs so ist, zeigt der in Deutschland lebende polnische Filmemacher Stanislaw Mucha („Absolut Warhola“) in seiner skurril-liebevollen Dokumentation „Die Mitte“. Rund ein Dutzend Orte beanspruchen für sich, das geographische Zentrum Europas zu sein...

    Die Ausgangsidee von „Die Mitte“ ist so simpel wie faszinierend. Auf der Suche nach dem Mittelpunkt Europas macht sich Dokumentarfilmer Stanislaw Mucha mit seiner kleinen Crew auf eine Odyssee durch Deutschland, Österreich, Litauen, Polen, die Slowakei und die Ukraine. Der Regisseur beweist sich dabei als ausgezeichneter Rechercheur mit einem feinen Gespür für die Menschen, denen er begegnet. Er geht geplant an die Sache heran, lässt sich und seinen Film aber an den Orten, die die Mitte für sich proklamieren, treiben. Reist von Gedenkstein zu Gedenkstein. Er drängt sich nicht auf, er lässt die Menschen reden. Ergibt sich etwas Interessantes, hakt er nach, spinnt den Faden weiter und begleitet seine Protagonisten ein Stück des Weges, lässt sie ihre Geschichten erzählen und hört zu, was sie bewegt und welche Probleme ihnen unter den Nägeln brennen.

    Im hessischen Cölbe glaubt ein Gartenzwerg-Fetischist den Mittelpunkt ausgemacht zu haben. Direkt in seinem Vorgarten soll es sein, das Zentrum. Beweise hat er nicht, aber es ist einfach so, versichert der Mann. Im österreichischen Braunau geben sich die Bewohner schon weit gesprächiger. Ein Gasthaus „Mittelpunkt Europas“ zeugt von dem Anspruch. Napoleon höchstpersönlich bestimmte einst, dass Braunau die Mitte Europas sei. Und in Braunau weiß jeder, dass an dessen Wort nicht zu zweifeln ist. Der Tourismus soll in dem beschaulichen Örtchen groß rauskommen. Aber alle kommen nur wegen Adolf Hitler, dessen Geburtshaus in Braunau steht. Mit Fotokameras bewaffnete Japaner stehen grinsend und feixend vor dem historischen Gebäude und freuen sich diebisch, es ablichten zu können. Dem zweifelhaften touristischen Ruf zum Trotz glauben sie in Braunau an ihren Mittelpunkt.

    Dominierte bisher die Skurrilität der Personen, nimmt diese mit dem Weg gen Osten zwar nicht ab, aber es mischen sich auch die sozialen Probleme der neuen EU-Staaten in die Geschichte. Denn ganz nebenbei wird „Die Mitte“ nun mit bewundernswerter Leichtigkeit auch zum Porträt des ärmlichen Ost-Europas. Die Menschen sind verzweifelt, leben am Existenzminimum, sind teils verbittert, legen aber einen ausgeprägten Sarkasmus und viel Humor an den Tag, um das Leben überhaupt ertragen zu können. Das ist immer noch humorvoll, aber im Kern auch tragisch und erschütternd. Was wie eine Reise in die Vergangenheit anmutet, ist in Wahrheit ein Blick die Gegenwart, die sich in naher Zukunft nicht zum Positiven verändern wird. In Litauen berichtet ein Mann, dass sich nahezu seine gesamte Verwandtschaft im Laufe der Zeit aus Frust und Zukunftsangst erhängt hat. Das einzige, was ihm noch Freude bereitet, ist das Fernsehen. Zehn Minuten beobachtet Mucha ihn fast wortlos dabei, wie er seine TV-Antenne ausrichtet, um anschließend ein verwaschenes, verwackeltes Bild zu empfangen. Aber er ist glücklich – für diesen Moment. Um das zu erkennen, bedarf es keiner Worte, die Bilder sprechen für sich. Hier zeigt sich das exzellente Gespür Muchas. Überhaupt üben Fernseher im Litauen scheinbar eine besondere Faszination aus. In einem Waldstück, die die Mitte Europas sein soll, haben die Einwohner einen skurrilen Fernseher-Friedhof errichtet. „Fernseher für Europa“ nennen sie dieses „Installationskunstwerk“. Tausende von Geräten sind übereinander und nebeneinander angeordnet, um den Mittelpunkt zu dokumentieren.

    Am stärksten wird Muchas Film im ukrainischen Rachiv. Dort gelten offiziell zwei Zeiten - die europäische und die Kiewer, die um zwei Stunden auseinander liegen. Daraufhin gefragt, wie die Einwohner die Zeiten denn unterscheiden können oder wie man sich verabrede, zuckt eine Frau nur lächelnd mit den Schultern. Jeder legt die Zeit so aus, wie es ihm am besten passt. Der Herzstück des Schlussdrittels ist Muchas Besuch bei einer alten, bauernschlauen Zeitungsverkäuferin in Rachiv. Die kauzige Frau mit den schlohweißen Haaren ist mit ihrem Kiosk das Zentrum des Ortes. Alle kommen zu ihr. Selbst eine Zeitung mit dem Titel „Mitte Europas“ gibt es dort. Doch die ist ausverkauft. „Nimm doch das 'Karpatenecho', da steht das gleiche drin“, empfiehlt die Kioskfrau, einem interessierten Kunden, dem letzten Chassidim des Ortes. Mucha und sein Mini-Team sitzen mit in dem winzigen Laden und beobachten. Der Zeitungskäufer, der sich über die Mitte Europas informieren will, interessiert sie. Und wenig später sitzen sie in seinem Wohnzimmer und lassen sich seine Geschichte erzählen. Den finalen Versuch, die Mitte in Polen auszumachen, unternimmt Mucha gemeinsam mit zwei Schweizer Globetrottern. Mit einem GPS-Gerät bewaffnet, machen sie sich auf die Suche. Sie irrlichtern durch das dichte Dickicht des Waldes... und verlaufen sich...

    „Die Mitte“ folgt über einen Radius von mehr als 1.000 Kilometern Spuren von Irrtümern, Anmaßungen und skurriler Selbstbehauptung. Er wirft Schlaglichter auf Spinner und Visionäre, Lokalpatrioten und Kontinental-Utopisten. Und Mucha erzählt davon, wie jenseits der alten EU-Grenzen, inmitten der neuen, die Existenzprobleme wachsen, mit ihnen jedoch auch Gelassenheit und Humor der Bewohner. Die Menschen der jeweiligen Mitten bestimmen die Betrachtung von Europa. Keine Mitte liegt wirklich im Zentrum, aber jede ist der Nabel der Welt und macht den virtuellen Ort zu einem Herzstück. Er inszeniert ein wahres Kuriositätenkabinett, begegnet den Menschen aber immer mit Respekt, angenehmer Zurückhaltung und Neugier. Und wer wusste schon wirklich, was die Leute auf dem flachen Land in Ost-Europa bewegt, was sie ausmacht, wie sie fühlen? Wer sich ein Kinoticket für Stanislaw Muchas „Die Mitte“ kauft, wird darauf einige interessante wie überraschende Antworten bekommen. Ein großartiger Film über reale Menschen.

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