Dominic Senas Kinodebüt und Serienkillerfilm „Kalifornia“ erweist sich aus heutiger Sicht als wichtiges Sprungbrett für fast alle Beteiligten in tragenden Rollen. David Duchovny trat noch im Produktionsjahr seinen Dienst als I-want-to-believe-Mulder an und etablierte sich als einer der populärsten TV-Protagonisten der 1990er Jahre, während Juliette Lewis in den folgenden Jahren in Klassikern wie Natural Born Killers oder From Dusk Till Dawn glänzte. Brad Pitt, der einen beachtlichen Killer gibt, wechselte zwei Jahre später die Seiten, um in Sieben selbst auf Serienmörderjagd zu gehen und sich endgültig auf Hollywoods A-Liste zu positionieren. Nur für Dominic Sena hat es schlussendlich nicht gereicht. Zwar bediente er mit Nur noch 60 Sekunden und Passwort: Swordfish das Popcorn-Kinosegment noch recht manierlich, doch auch dort stößt man auf die gleiche Malaise, an der auch „Kalifornia“ krankt: Hinter Senas Faible für eine stylishe Inszenierung tritt Inhalt und konsequente dramaturgische Auseinandersetzung leider zurück und entschleunigt so die Wucht der mitunter packenden Charaktere.
Brian Kessler (David Duchovny) ist fasziniert von Serienmördern. Der Journalist plant mit seiner Freundin, der Fotografin Carrie (Michelle Forbes), für die Recherche zu seinem Buch über Serienmörder eine Tour durch die Staaten mit dem Ziel Kalifornien. Der Weg soll sie vorbei führen an den berüchtigtsten Mord-Schauplätzen der US-Geschichte. Eine Frage im Speziellen treibt ihn: „What’s the difference between a killer and anyone of us? What was that what they had – or didn’t have – that they separated from us?” Um die Fahrtkosten zu teilen, annoncieren sie ihren Trip. Nur ein Pärchen meldet sich auf die Anzeige: Early Grayce (Brad Pitt) und Adele Corners (Juliette Lewis), White Trash, wie er im Buche steht, und somit das vollendete Gegenbild zu den yuppiesken Brian und Carrie. Die Fahrt beginnt und Brian versucht, den beiden Mitreisenden mit einem Höchstmaß an Toleranz und Offenheit zu begegnen. Carrie hingegen erfüllt von vornherein ein mulmiges Gefühl Early betreffend. Doch auch sie ahnt nicht, dass mit dem Redneck selbst ein Serienkiller auf ihrer Rückbank sitzt.
Seinen Reiz bezieht der Road-Movie-Thriller vor allem aus der Konfrontation zweier Lebenswelten. Schon zu Anfang konterkariert Sena das Yuppieleben Brians und Carries (in ihrem Appartement/auf einer Cocktail-Party) mit der erbärmlichen Trailer-Park-Existenz Earlys und Adeles. Er stellt Sprache, Lebensrealitäten und die Beziehungen der beiden Pärchen gegenüber, um sie sodann aufeinander prallen zu lassen. Dieses Aufeinandertreffen beider Paare kommt einem Culture-Clash gleich. Sittlichkeit contra Archaik, Intellektualismus contra Körperlichkeit. Die kreative Mittelschicht trifft die mittellose Unterschicht und ihre Faszination füreinander speist sich aus den unüberwindbaren Gegensätzen. Das ist auch der Motor einer sachten Annährung zwischen Brian und Early. Der konfliktscheue Intellektuelle Brian zeigt sich zunehmend empfänglich für Earlys brutalen Charme. Ähnlich wie Edward Nortons Fight Club-Protagonist von Tyler Durdens nihilistischer Männlichkeit fasziniert ist, kann sich Brian Earlys gesetzlosem Charisma nicht entziehen. Dieser Redneck ist ein Ausbund von Männlichkeit: er prügelt, er fickt, er schießt mit einer Selbstverständlichkeit, dass Brian mitunter in dessen Sprache verfällt („I have to see a man about a mule“). In einer Szene zeigt Early dem Kopfmenschen Brian, wie man mit einer Waffe umgeht, worauf dieser erregt wie ein Kind Scheiben zerschießt. Die kühle Carrie zeigt sich schockiert von Brians Empfänglichkeit und knüpft doch zarte Bande mit Earlys grenzenlos naiver, aber doch auch liebenswürdiger Freundin Adele. Die emanzipierte Carrie stößt in ihren Gesprächen mit der devoten Kindsfrau Adele auf soviel Fremdartiges, dass ihr nichts anderes übrig bleibt, als weiter zu fragen – auch hier wirkt die Attraktion des Andersartigen. Adele gesteht Carrie, dass Early sie schlägt – „but only when I deserve it.“ Auf soviel Authentizität waren die Young Urban Professionals Carrie und Brian bei ihrer Reiseplanung wohl nicht gefasst.
Sena skizziert das Aufeinandertreffen derer, welche die Gewalt und ihre Seiteneffekte verteufeln und gleichzeitig fasziniert konsumieren, sie beobachten, beschreiben, bebildern, mit jenen, welche sie anwenden. Die Voyeure treffen ihre Beobachtungsobjekte. Diese Perspektive erfährt ihre entscheidende Wendung just, als Carrie Early beim Geschlechtsverkehr mit Adele im Auto fotografiert. Er bemerkt sie und grinst ihr in die Kamera, als ob er sagen möchte „Auch ich beobachte dich.“ Von hier an wird er zum Beobachter. Er offenbart sich als Killer und er möchte die Tour fortsetzen. Dass Brian sich hingegen einige Züge Earlys aneignen muss, um zu überleben, gerät allzu plakativ.
Juliette Lewis und Brad Pitt wärmen sich hier für spätere, ähnlich gelagerte Rollen auf. Lewis selbstredend für den im Folgejahr entstandenen Natural Born Killers, wo sie wieder als Braut des Killers auftreten wird. Pitt darf hier zum einen für seine Darstellung des irren Revolutionsführers Jeffrey Goines in Twelve Monkeys wie auch des Übervaters Tyler Durden in David Finchers Meisterwerk Fight Club üben. Die Leistungen beider sind eindringlich und stehlen Duchovny und Forbes die Schau, was jedoch auch den extremen Charakteren geschuldet ist.
Pitts Hillbillie-Singsang, sein Grunzen und Lachen, sein Augenzukneifen, Fußkratzen und Mützezupfen stauen sich auf zu einer Ansammlung von Attributen, die in ihrer Summe im Filmverlauf von „belustigend“ zu „gemeingefährlich“ umschlagen. Als er an einer Tankstelle erstmals auf dem Trip mordet, um an Geld zu kommen, sticht er wie im Rausch auf das Opfer ein, um kurz darauf mit dem gestohlenen Geld das Benzin zu zahlen – und Trinkgeld zu geben. Leben Charakterzüge der Unberechenbarkeit und des Wahnsinns in seinen Rollen in Twelve Monkeys und Fight Club wieder auf, erinnert Early Grayces Körperlichkeit am ehesten an Pitts zappelnden, stammelnden und kreuzgefährlichen Schelm Mickey O’Neil aus Snatch. Juliette Lewis’ Porträt der Adele kann es locker mit Pitts Redneck aufnehmen. Gen Ende wird sie Carrie ein Lied singen: „I wish Carrie was happy.“ Zwangsläufig muss man an Natural Born Killers denken, wie Lewis „Born Bad“ in ihrer Zelle intoniert, vollkommen versunken, vollkommen bei sich. Hier aber ist sie außer sich. Man merkt jeder Faser ihres Körpers die Unerträglichkeit der Situation an, wie sie versucht, die Realität, dass ihr Early ein Mörder ist, so weit und so lange wie möglich von sich zu weisen. Bis kein Musik-Aufdrehen und Yo-Yo-Spielen mehr hilft. David Duchovny und Michelle Forbes sind ihren weniger prägnanten Rollen gewachsen. Lediglich Brians belanglose Erzählstimme aus dem Off nervt im Verlauf zunehmend.
„Kalifornia“ geht es ähnlich wie den 70er-Jahre-Horrorstreifen (The Hills Have Eyes, Texas Chain Saw Massacre) einerseits um den Terror aus dem eigenen (Hinter-)Land sowie den selbstgemachten Horror als Nebenprodukt des gesellschaftlichen Strebens nach Leistung und Anerkennung. Andererseits um das triebhafte Animalische des Außenseitertums: die Bestie Mensch unter den Menschen. Amerika wird mit seinem archaischen Unterbewussten konfrontiert. Dieses Unterbewusstsein wird von Sena in formidable Sepia-Bilder dürrer Landschaften, verlassener Fabriken und toter Städte gegossen. Die Zeichnung des Yuppie-Pärchens hingegen gerät recht unkritisch, was dem Film eine Menge an Tiefgang raubt. Nur in einer Szene deutet er das Potential an, das im Aufeinanderprall der beiden Gegensätze steckt. Als Early dabei ist, einen Polizisten zu erschießen, ruft Brian ihm zu „Look at his face. It’s not your father!“, worauf Early, konfrontiert mit dieser flachen Küchenpsychologie, halb-irritiert, halb-amüsiert, nur „I know that, you idiot“, antwortet. Im Angesicht des Serienmörders Early Grayce entpuppt sich Brians Annährung an das Thema als popkulturelles Halbwissen ohne Fundament. Es hätte dem Film mehr als gut gestanden, exakt diese Entlarvung voranzutreiben.
Dominic Sena, Regisseur zahlreicher Videoclips von Janet Jackson, Michael Bolton und Sting, legte mit „Kalifornia“ ein gutes Kinodebüt hin. Herausragende Darstellerleistungen und eindrucksvolle Seelenbilder machen den Film sehenswert, doch definitiv zu keinem Muss. Er reicht bei weitem weder an die Meisterschaft der im Ansatz thematisch ähnlich gelagerten Badlands von Terrence Malick oder Oliver Stones Natural Born Killers heran, noch an Serienkiller-Highlights der 1990er wie Das Schweigen der Lämmer oder Sieben. Wirklich bedauernswert ist, dass die Autoren am Ende der Mut verließ und sie die vorher angezeigten Reibungen zwischen Brian und Carrie nicht in das Filmende integrieren.