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    Der Strom
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Der Strom
    Von Andreas Staben

    François Truffaut bezeichnete Jean Renoir schlicht als „größten Regisseur der Welt“. Auch Kritiker und Filmhistoriker stimmen in die Lobeshymnen ein, wenn es darum geht, die Meister der siebten Kunst zu benennen. Es sind zumeist Renoirs humanistische Dramen der 30er Jahre wie Die große Illusion und „Die Spielregel“, die auf ungeteilte Bewunderung stoßen. Neben diesen kanonisierten Meisterwerken gibt es im abwechslungsreichen Schaffen des Regisseurs zahlreiche weitere Perlen, sowohl unter den im amerikanischen Exil zwischen 1941 und 1947 entstandenen Filmen, als auch im europäischen Spätwerk der Fünfziger. Das 1951 uraufgeführte poetische Indien-Drama „Der Strom“ ist sozusagen das Scharnier zwischen den beiden letztgenannten Phasen. Mit ihm entdeckt der Sohn des berühmten impressionistischen Malers Auguste Renoir eine fremde Welt und erforscht darüber hinaus erstmals die Möglichkeiten der Farbfotografie – mit überwältigendem Ergebnis: Für Martin Scorsese, der ihn mehr als fünfzig Mal gesehen haben will, ist „Der Strom“ einer der beiden schönsten Farbfilme der Kinogeschichte. Der Traum in Technicolor ist aber bei weitem nicht nur eine ästhetische Offenbarung. Die fast ohne Plot auskommende Erzählung, in der die hauptsächlich mit Amateurdarstellern entstandenen Spielszenen mit ausgiebigen dokumentarischen Aufnahmen des Lebens am und auf dem Ganges kombiniert werden, macht Renoirs keinem herkömmlichen Genre zuzuordnenden Film endgültig zu einem Musterbeispiel des modernen Kinos.

    Im Haushalt eines britischen Leiters einer Jutefabrik (Esmond Knight, „Hamlet“, „Die roten Schuhe“) in Bengalen herrscht helle Aufregung, als der Nachbar Mr. John (Arthur Shields, Der Teufelshauptmann, „Der Sieger“) Besuch aus Amerika erhält: Captain John (Thomas E. Breen), ein Offizier, der im Krieg ein Bein verloren hat, zieht das Interesse der jungen Mädchen auf sich. Melanie (Radha), die halbindische Tochter seines Gastgebers, steht genauso in seinem Bann wie Harriet (Patricia Walters) und Valerie (Adrienne Corri, Uhrwerk Orange), die Schwestern von nebenan. Nur den kleinen Bogey (Richard Foster) lassen die Schwärmereien der Mädchen kalt, er ist vielmehr an einer Kobra interessiert, die sich im Wurzelwerk eines Baumes an der Grundstücksgrenze eingenistet hat...

    Mit der Vorführung von „Der Strom“ wird die den Höhepunkten und Meilensteinen der Festivalgeschichte gewidmete Retrospektive der Jubiläumsberlinale 2010 eröffnet. Renoirs Film ist dafür die ideale Wahl, denn er ermöglicht den Brückenschlag zur Vergangenheit und ist zugleich der perfekte Ausdruck eines dezidiert gegenwärtigen Kinoverständnisses. Als erster vollständig in Indien entstandener Farbfilm (es gab vor Ort noch nicht einmal ein entsprechendes Kopierwerk, das Material musste eigens nach London geschickt werden) steht er in den Geschichtsbüchern und als Feier der reinen Evidenz, der sinnlichen Wahrnehmung des Moments nimmt er jedes Publikum gefangen.

    Renoir verstand das Filmemachen als eine Unterhaltung zwischen sich selbst und dem Zuschauer. Auch in „Der Strom“ spricht aus jeder Einstellung die Persönlichkeit seines Regisseurs und dessen legendäre Offenheit. Renoirs stets neugieriger Blick ruht hier nicht nur auf den Gesichtern der Frauen und Mädchen (neben dem Wasser eins seiner Lieblingsmotive), sondern genauso auf den Arbeitern der Jutefabrik, den Treppen der prachtvollen Bauten am Ufer, den Fischerbooten auf dem Fluss und den Feierlichkeiten des Lichterfests Diwali. Die im Film immer wieder angesprochene hinduistische Idee der Gleichwertigkeit aller Dinge und aller Wesen ist zugleich gestalterisches Prinzip. Da können kleine Gesten plötzlich eine ganze Welt bedeuten und die Aufnahme eines blühenden Baums zu Frühlingsbeginn wird zum überwältigenden Bild reiner Schönheit.

    „Der Strom“ ist nicht nur so etwas wie eine essayistische Meditation über Indien, sondern auch ein Film über das Geschichtenerzählen, über das Finden eines eigenen Platzes in der Welt und über den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein. Der Film beginnt mit einer Aufnahme von weiblichen Händen, die ein Ornament auf den Boden malen, ein Hochzeitssymbol. Dazu ist die Stimme der erwachsenen Harriet zu hören: „Dies ist die Geschichte meiner ersten Liebe...“ Der rückblickende Off-Kommentar gibt der impressionistischen Szenenfolge über den ganzen Film hinweg eine Grundstruktur und reichert ihn mit Reflexionen über das Leben und die Kunst an. Die Hauptfigur Harriet ist dabei so etwas wie ein Alter Ego der Autorin Rumer Godden, die dem Film mit ihrem 1946 veröffentlichten, halb-autobiographischen Kurzroman „The River“ die Vorlage lieferte und gemeinsam mit Renoir auch das Drehbuch verfasste.

    Die Besetzung der jungen Harriet mit der 14-jährigen Patricia Walters, die nie zuvor vor einer Kamera gestanden hatte und auch hinterher keinen Film mehr drehen sollte, ist ideal im Sinne der von Renoir angestrebten Wahrhaftigkeit. Ihre Unsicherheiten angesichts der aufwallenden Gefühle von Liebe und Eifersucht sowie die erstaunliche Fähigkeit diese Empfindungen in Gedichten und Geschichten auszudrücken, machen aus ihr eine denkwürdige jugendliche Hauptfigur. Einmal erzählt sie drauflos und daraus wird in einer der schönsten Sequenzen des Films eine Liebesgeschichte, in der sich das Brautpaar in Gottheiten und wieder zurück verwandelt. Sie mündet in eine traditionelle Tanzeinlage von Radha, einer der Meisterinnen dieses Fachs, die Renoir sich und uns an dieser Stelle einfach gönnt.

    Neben Harriet buhlen auch die weise und melancholische Melanie sowie die freche und ein wenig grausame Valerie um die Gunst des versehrten Offiziers, der von dem tatsächlich einbeinigen Amateur Thomas Breen mit linkischem Stoizismus verkörpert wird. Valerie hat auch einen der berührendsten Momente des Films: Ihr gelingt es, dem Captain einen Kuss abzutrotzen, doch hinterher gelangt sie zu der bestürzenden Erkenntnis, dass der Traum zerstört wurde, indem er Wirklichkeit geworden ist. Das Paradies der Kindheit (der Garten der Familie ist tatsächlich wie ein zweites Eden) wird unwiderruflich verlorengehen, so wie der Fluss immer weiter fließt. Zerstörung ist aber zugleich die Voraussetzung für jede Erneuerung, ein Kreislauf, der von der Göttin Kali symbolisiert wird. Und so inszeniert Renoir die Nähe von Schlaf und Tod, den Wechsel von Sterben und Geburt: The day ends, the end begins.

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