Die Franzosen sind schon einen ganzen Schritt weiter als wir Deutschen. Gehen bei uns die Demonstrationen selbst dann noch gesittet zu, wenn Großunternehmen Rekordgewinne und Massenentlassungen am gleichen Tag bekannt geben, haben die französischen Politiker einen wahren Horrorsommer hinter sich. Kürzungen an allen Ecken und Enden, die mangelhaften Perspektiven für die Jugendlichen in den benachteiligten Pariser Vororten und die zunehmende Gettoisierung haben dazu geführt, dass sich der soziale Druck in einigen warmen Sommernächten in lautstarken Massendemonstrationen, endlosen Straßenschlachten und brennenden Autos entladen hat. Es ist keine große Überraschung, dass solch ein brisanter Sprengstoff zwischen gekürzten Bildungsausgaben und löchrigen Sozialnetzen auch filmisch nicht lange unaufbereitet bleibt. Dass der bisher sowohl treffendste als auch bissigste Beitrag zu dieser Thematik mit Valérie Minettos „Looking For Cheyenne“ ausgerechnet in Form eines lesbischen Beziehungsdramas daherkommt, war hingegen nicht unbedingt zu erwarten.
Sonia (Aurélia Petit) und Cheyenne (Mila Dekker) haben sich getrennt – aber nicht etwa, weil sie sich nicht mehr lieben, sondern weil sich Probleme ganz anderer Art zwischen sie gedrängt haben. Nachdem Cheyenne ihren Job als Journalistin aufgrund einer Fusion verloren hatte, konnte sie schon bald ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen und musste aus ihrer Wohnung ausziehen. Natürlich bot Sonia ihre Unterstützung an, aber Cheyenne wollte diese Hilfe nicht annehmen und hat sich stattdessen komplett aus dem kapitalistischen System ausgeklinkt – zusammen mit ihrer alten Freundin Edith (Laurence Côte) wohnt sie nun auf dem Lande, wo sie sich von Fischen und selbst gejagten Kaninchen ernährt. Sonia hingegen versucht sich mit Affären abzulenken, aber sowohl ihr Techtelmechtel mit dem politisch engagierten Pierre (Malik Zidi) als auch ihre Beziehung zu der depressiven Béatrice (Guilaine Londez) verschaffen kaum Linderung. Sonia und Cheyenne gehören halt trotz aller äußeren Umstände einfach zusammen…
Auch wenn die Inszenierung insgesamt eher als nüchtern einzustufen ist, passt Minettos Stil insgesamt doch hervorragend zur rebellischen Haltung des Films. Indem sie den gezügelten Bildern nämlich eine märchenhaft-magische Erzählform entgegenstellt, entsteht eine ganz eigene, unheimlich aufregende Atmosphäre. Da tauchen Figuren aus dem Nichts auf, geben ihren Senf aus dem Off dazu oder teilen ihre Meinung dem Zuschauer direkt in die Kamera mit – hinzu gesellt sich noch eine besondere Art des Humors, der gleichermaßen liebenswürdig und bissig daherkommt. Dabei wirken diese dramaturgischen Kniffe aber nie aufgesetzt oder zu theatralisch, sondern transportieren Emotionen wie Aussagen ohne jede störende Angestrengtheit. Ein ebenso außergewöhnlicher wie mutiger Stil, der die Originalität der abseits jeglicher Klischees erzählten Liebesgeschichte perfekt unterstreicht.
Die Medien predigen euch gute Laune, und die Politiker lachen euch aus. (die Aufschrift eines von Pierres Flugblättern)
Die vage, nur selten eindeutige Art, in der Minetto hier die Dialoge anlegt und die Beziehungen aufarbeitet, steht – angenehm französisch – klar in der Tradition der großen Regisseure der Nouvelle Vague. Dazu passt natürlich auch der rebellisch-politische Unterton, der dabei nie zum puren Selbstzweck verkommt, aber dennoch auf nahezu jede Szene einen anreichernden Einfluss ausübt. Selten hat ein Film seinem Publikum so klar und treffend vor Augen geführt, dass soziale Perspektivlosigkeit nicht nur den einzelnen Menschen, sondern auch Beziehungen, Freundschaften und damit im Endeffekt die ganze Gesellschaft betrifft – und das ohne erhobenen Zeigefinger fließend in eine auch so schon spannende Geschichte verpackt. Dabei verzichtet Minetto sogar darauf, obwohl sie natürlich eindeutig auf der richtigen Seite steht, undifferenzierte, polemische Kritik zu üben. Statt die Aussteiger einfach als rebellische Helden zu porträtieren, stellt sie auch diese als bloße Opfer des Systems dar: „Gegen das System zu kämpfen, bringt nichts mehr, man muss aussteigen!“ Ein einfühlsamer, tiefer, aber auch tieftrauriger Einblick in eine verdammte Gesellschaft, der überhaupt nur durch das vorsichtige Happyend zu ertragen ist.
Politik kann einfach nicht funktionieren, wenn man sich dabei zu Tode langweilt – was unsere Politiker allwöchentlich unter Beweis stellen, wenn sie nach dem Durchleiden stundenlanger, eintöniger Reden ihre merkwürdigen Entscheidungen fällen. Und so wartet „Looking For Cheyenne“ neben dem immer wieder aufblitzenden, subtilen Humor und der aufregend anderen Mischung aus schlichter Inszenierung und ungewöhnlicher Dramaturgie auch noch mit einer berührenden Liebesgeschichte auf, die die Herzen der Zuschauer mit ihrer modernen „Julia und Julia“-Fabel im Sturm erobert. Und den größten Anteil daran haben wohl die beiden megasympathischen Hauptdarstellerinnen. Wo Mila Dekker als Aussteigerin Cheyenne das Publikum mit ihrem schier unendlich scheinenden Charme sofort für sich einnimmt, überzeugt Aurélia Petit als Lehrerin Sonia, die an allen Enden zwischen die Fronten gerät, durch eine ungeheure Komplexität und ein extrem abwechslungsreiches Spiel. Berührend, komisch, spannend und politisch brisant – so ist „Looking For Cheyenne“ bei weitem kein reiner Genrefilm, sondern auch für ein nicht lesbisches Publikum ein echter Geheimtipp.