Dass ein Gericht einen Filmstart verhindert, ist mittlerweile nichts Neues mehr. So stoppte das Landgericht Frankfurt 2006 den Start des Kannibalen-Dramas Rohtenburg, weil die Produzenten die Persönlichkeitsrechte von Armin Meiwes, dem realen Kannibalen von Rotenburg, verletzten. Bei Nick Cassavetes’ Drogen-Drama „Alpha Dog“ stand der Kinostart ebenfalls lange auf der Kippe, doch im Dezember 2006 gab ein US-Bundesgericht grünes Licht. Der reale, „Alpha Dog“ zugrunde liegende Fall um den Mordverdächtigen Jesse James Hollywood wird in Kalifornien erst noch verhandelt. Die Anwälte des Angeklagten hatten gegen die Veröffentlichung geklagt, weil der Film die Jury beeinflussen würde. Für das Drama selbst ist das Hickhack unerheblich, Cassavetes’ Film glänzt mit einer stylishen Optik und einer fiebrigen Atmosphäre, die sich mit zunehmender Dauer immer stimmiger entwickelt.
Der junge Johnny Truelove (Emile Hirsch) hat es in der wohlhabenden Upper Middle-Class des San Fernando Valley in Südkalifornien zu etwas gebracht. Er residiert in einem schmucken Bungalow, feiert durchgehend wilde Partys. Hier wird das gute alte Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll noch in Reinkultur zelebriert - allerdings auf moderne Art und Weise mit Rap-Musik und Videospielen als kulturellem Hintergrund. Der Haken: Johnny und seine Gang verdienen ihr Geld durch den Verkauf von Drogen. Wenn ein Kunde mal nicht bezahlen kann, sind die Jungs nicht zimperlich, das Geld wieder einzutreiben. Der heißblütige Drogensüchtige Jack Mazursky (Ben Foster) schuldet Johnny noch einige hundert Dollar, zwischen den beiden Platzhirschen entwickelt sich ein Machtkampf. Jack verwüstet Johnnys Haus, was sich dieser nicht gefallen lässt und kurzerhand Jacks kleinen Halbbruder Zack (Anton Yelchin) kidnappt, um Druck auszuüben. Doch Zack macht sich keine großen Gedanken. Im Gegenteil. In der Obhut seiner Kidnapper, die ihn in die Partyszene einführen, hat er die beste Zeit seines Lebens. Er freundet sich mit Johnnys bestem Kumpel Frankie (Justin Timberlake) an, der auf die Geisel aufpassen soll. Zacks Eltern Olivia (Sharon Stone) und Butch (David Thornton) sind dagegen außer sich vor Sorge und die Polizei ermittelt auf Hochtouren...
Neuland, ein für Hollywood kaum bekanntes Terrain. Nick Cassavetes (Wie ein einziger Tag, John Q.) betritt es in seinem Drama „Alpha Dog“. Doch ganz so aufsehenserregend ist diese Tatsache nicht, da nur formaler Natur. Zudem ist das Werk als Indie außerhalb des Hollywood-Systems produziert worden. Noch nie kam ein Film, der auf einem wahren Kriminalfall beruht, vor der Verhandlung in die Kinos. Als die Produktion 2004 Züge annahm, war das reale „Alpha Dog“-Vorbild Jesse James Hollywood (was für ein Name!) noch auf der Flucht. Im Jahr 2000 schaffte er es als 20-Jähriger als einer der jüngsten Straftäter der Geschichte auf die „Most Wanted“-Liste des FBI. Erst im März 2005 ging der Gangster der Polizei in Brasilien ins Netz. Das FBI gewährte dem Regisseur umfassenden Einblick in die Akten. Wer sich im Vorfeld über „Alpha Dog“ informiert, wird wissen, was Jesse James Hollywood (bzw. Johnny Truelove im Film) vorgeworfen wird. Er soll der Drahtzieher bei der Ermordung des 15-jährigen Nick Markowitz gewesen sein. Was auf den ersten Blick wie ein immenser Spannungshemmer anmutet, ist in der Praxis nur halb so schlimm, weil Cassavetes diesen Umstand perfekt in seine Dramaturgie einbaut.
Es fällt am Anfang ein bisschen schwer, mit „Alpha Dog“ warm zu werden. Doch wenn sich der Zuschauer erst einmal mit dem Milieu angefreundet und erkannt hat, dass Cassavetes etwas drauf hat, kommt der Film ins Rollen. Die gesamte Exposition besteht im Grunde nur aus der Schilderung der Umgebung, was sich später als äußerst wichtig herausstellen soll. Der Film hat nicht die Radikalität von Larry Clarks Kids, tendiert aber schon in diese Richtung, führt der Regisseur doch die Rebellion der reichen Teenager-Kids im gut situierten Südkalifornien stilsicher vor. Die Clique um Johnny Truelove schafft sich ihre eigenen Regeln und pfeift auf alles andere, was sich zu einer gefährlichen Mischung aus Gewalt und Gegengewalt zusammenbraut. Herkömmliche moralische Definitionen gelten nicht mehr. Wenn überhaupt, wird nach einer modernen nihilistischen Gangsterehre gelebt, die im Zweifelsfall aber hinten anstehen muss.
Der besondere Kniff von „Alpha Dog“ ist die Atmosphäre, die Cassavetes sehr behutsam und geschickt aufbaut, bis sie am Ende beinahe zu zerbersten droht, wenn das Unheil immer näher kommt und unausweichlich scheint. Der Regisseur zieht die Daumenschrauben filigran zu, dabei zeichnet sich der Ausgang der Geschichte selbst eigentlich in der Form nicht unbedingt ab, erst unglückliche Umstände führen dazu. Trotzdem ist der Inszenierung schon sehr bald anzumerken, dass sich hier eine Tragödie anbahnt, selbst wenn die Bilder zunächst eine andere Sprache sprechen – eine feine Regieleistung, die Cassavetes da vollbringt, indem er Handlung und Stimmung trennt und erst an Ende wieder zusammenfügt.
Schauspielerisch vollbringt „Alpha Dog“ keine Wunderdinge, bietet aber grundsolide Leistungen. Die Besetzung von Emile Hirsch als harter Macker, der in The Girl Next Door noch den gescheitelten Bubie vom Dienst spielte, mag vordergründig irritieren. Doch der reale Jesse James Hollywood ist nur gut 1,60 Meter groß, so dass Hirsch diesem mit seiner zierlichen Statur (1,70 Meter) schon recht nah kommt und im Film immer halb so groß wirkt, wie seine Mitstreiter. Mit coolem Backenbart versehen, strahlt Hirsch stets eine hinterlistige Gefährlichkeit aus. Seinen Status als Anführer der Clique muss er durch Härte immer wieder verteidigen. Überraschend fällt der Auftritt von Sänger und Teenieschwarm Justin Timberlake („Edison“) aus. Das ehemalige ’NSync-Mitglied spielt die Schlüsselrolle. Sein Frankie Ballenbacher ist das moralische Gewissen des Films. Sein Charakter erfüllt für den Zuschauer eine wichtige Funktion, denn je näher sich „Alpha Dog“ dem Ende entgegen neigt, desto mehr wird er zur Integrationsfigur. Und diese Aufgabe meistert Timberlake durchaus gut, ohne nun wirklich alles in Grund und Boden zu spielen, aber diese zunehmende Verunsicherung bringt er glaubwürdig rüber. Seine Verbindung auf der Leinwand mit dem Entführungsopfer passt. Anton Yelchin könnte auch direkt aus Kids in der Frühphase stammen – er ist genauso neugierig auf die „verbotenen Dinge“, wie die Protagonisten aus Clarks Film. Ben Foster hängt mit seiner kraftvollen Performance dagegen ein wenig in der Luft. Sein gewaltfanatischer Nazi bekommt kaum Reibungsfläche, da er vom Kidnappingszenario getrennt wird und in „normaler Umgebung“ keinen ernsthaften Konterpart hat, an dem sich sein energiestrotzendes Spiel entzünden könnte.
Die großen Namen auf der Besetzungsliste haben für die Entwicklung des Films keine schwerwiegende Bedeutung. Bruce Willis als Trueloves Vater darf ein bisschen Präsenz und Charisma zeigen, aber es wäre sicherlich auch ohne ihn gegangen. Sharon Stones Rolle fällt größer aus, ohne dass sie viele Möglichkeiten bekommt, zu glänzen. Im Epilog legt sie - unter einem Fat Suit - dazu noch einen komplett überflüssigen, melodramatischen Auftritt hin, der schwer nach overacting schreit. Das hätte uns Cassavetes besser erspart.
Stilistisch fährt „Alpha Dog“ alles auf, was hip ist. Splitscreens, Blaustichfilter, Perspektivwechsel oder Videosequenzen. Auf der Zeitebene springt der Film hin und her, um sich selbst einen pseudo-realen Anstrich zu verleihen. Zeugenaussagen werden zwischengeschnitten, Johnnys Vater kommt ebenso zu Wort wie die Eltern des Entführungsopfers. Das wirkt mitunter eine Spur zu dick aufgetragen. Eine klare, wertende Aussage spart sich Cassavetes auch, seinen Standpunkt zu diesem Verbrechen muss sich jeder selbst suchen. Wer sich auf das stylishe Drama einlassen kann, wird mit einem packenden, atmosphärisch sehr dichten Werk belohnt, das kleinere Schwächen wenig ins Gewicht fallen lässt.