Wenn dem Roman, der monatelang ein internationaler Bestseller war, scheinbar plötzlich der Film folgt, kann man skeptisch werden und schnelle Geldmacherei wittern. Im Falle von „Drachenläufer“, Khaled Hosseinis hoch gelobtem Debütroman und der Verfilmung durch Marc Forster, ist dies zum Glück nicht der Fall. Im Gegenteil, Forster gelingt ein Ausnahmefilm. Immer noch gilt: Egal, was Forster anpackt, es kommt immer etwas Besonderes dabei heraus!
Afghanistan 1975: Die zwölfjährigen Amir (Zekeria Ebrahimi) und Hassan (Ahmad Khan Mahmidzada) sind die dicksten Freunde, auch wenn sie aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten stammen. Amir will unbedingt einen Wettbewerb im Drachensteigen gewinnen, wobei Hassan ihn als sein „Drachenläufer“ tatkräftig unterstützt. Doch am Ende des Wettkampfes wird die Beziehung der Jungen auf eine harte Probe gestellt. Nicht alle sind mit ihrer Freundschaft einverstanden: Die Bande rund um den jungen Schläger Assef (Elham Ehsas) hat es auf Hassan abgesehen. Nach dem Turnier lauern sie ihm auf. Danach ist nichts mehr wie es war. Das Ereignis zieht weit reichende Konsequenzen nach sich. Und auch die politische Situation in Afghanistan verändert sich.
Die Geschichte „Drachenläufer“ ist eng mit den politischen Ereignissen in Kabul verbunden. Im Jahre 1747 wurde Afghanistan unter dem Paschtunen Ahmed Schah Durrani zu einem eigenständigen Emirat, das sich im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgreich gegen den Einmarsch von britischen und russischen Truppen zur Wehr setzte. Als nach einem Militärputsch 1973 das Königreich einer Republik weichen musste und die Kommunisten daraufhin die Macht übernahmen, formierten sich die islamischen Mudschaheddin (dt.: „derjenige, der Heiligen Kampf betreibt“) zum Widerstand. Der Einfluss der Kommunisten spielt im Film wiederholt eine Rolle. Der Einmarsch der sowjetischen Truppen 1978 und die Einsetzung eines prosowjetischen Regimes ist schließlich auch der Grund für Amir und seinen Vater, aus der geliebten Heimat zu fliehen. Es folgt ein langer Guerillakrieg, den die Mudschaheddin schließlich mit Unterstützung der USA gewannen. Wer sich für die politischen Hintergründe hierzu interessiert, dem sei Mike Nichols’ Satire Der Krieg des Charlie Wilson ans Herz gelegt. Als 1992 die kommunistische Regierung endgültig zusammenbrach, besetzten die Mudschaheddin Kabul und riefen den islamischen Staat aus. Der folgende Bürgerkrieg innerhalb dieser Gruppierung endete mit der Machtübernahme der fundamentalistischen Taliban, woraufhin sich das Angesicht Afghanistans drastisch veränderte, wie der Film im letzten Drittel beeindruckend zeigt.
„How long has it been since you saw a movie that succeeds as pure story? That doesn't depend on stars, effects or genres, but simply fascinates you with how it will turn out?” (Roger Ebert, „Chicago Sun-Times”)
Doch was beeindruckt so sehr an „Drachenläufer“, außer, dass der Film sehr authentisch wirkt (Der Eindruck der Authentizität wird übrigens noch dadurch verstärkt, dass viele Szenen in Dari, einer der beiden Hauptsprachen in Afghanistan, gefilmt worden sind)? Zunächst einmal hat der in die USA emigrierte Khaled Hosseini (*4. März 1965 in Kabul) einfach eine großartige Geschichte zu erzählen, von der man wissen will, wie sie weiter- und ausgeht. Auch wenn sie magische Momente enthält, ist sie doch von Hosseinis eigener Biographie geprägt und verliert somit nie den Boden unter den Füßen. Die Freundschaft zwischen Amir und Hassan, die als Paschtune bzw. Hazara unterschiedlich gestellten ethnischen Gruppen angehören sowie ihr Zerwürfnis, sind psychologisch stimmig; genau diese Emotionen schafft Marc Forster im Film absolut glaubhaft umzusetzen.
Der Karriere des Regisseurs und Drehbuchautos Marc Forster (*30. November 1969 im schwäbischen Illertissen) ebnete sein erster Langfilm „Everything Put Together“ den Weg. Der nur 100.000 Dollar teure Film wurde 2001 für den Jurypreis des Sundance Film Festivals nominiert. Seine größten Erfolge feierte Forster mit dem darauf folgenden Monster´s Ball, für den die Hauptdarstellerin Halle Catwoman Berry als erste Afroamerikanerin einen Oscar gewann und drei Jahre später mit Wenn Träume fliegen lernen, für den es fünf Golden-Globe- und sieben Oscar-Nominierungen hagelte. Für seinen halluzinogenen Trip Stay erhielt Forster 2005 zumindest in den USA Kritikerschelte. Nur wenige erkannten die Tiefe hinter der brillanten Oberfläche. Dennoch hat der Film eine breite Fanbasis. Mit dem Nachfolger, der skurrilen Komödie Schräger als Fiktion, für die Komikerkönig Will Ferrell (Ricky Bobby – König der Rennfahrer) für den Golden Globe nominiert wurde, illustrierte der Deutsch-Schweizer einmal mehr seine Vielseitigkeit. Wer sich für Marc Forster interessiert, dem sei auch die Dokumentation „Marc Forster – Von Davos nach Hollywood“ empfohlen.
Was ist eigentlich Forsters Geheimnis? Im Gegensatz zu vielen anderen Regisseuren ist sein Stil, sein Markenzeichen wenn man so will, schwer zu fassen. Seine Themen – es geht häufig um Schuld, aber auch um Träume und die Macht der Phantasie – lassen sich noch eher fassen als ein spezifischer Zugang zu seinen sehr unterschiedlichen Sujets und gewählten filmischen Mitteln. Vielleicht ist es dies: Er fühlt sich stets in erster Linie dem Stoff verpflichtet und setzt seine Fähigkeiten so virtuos ein, wie es dem Film am besten bekommt. Dafür nimmt er sich so weit zurück wie nötig oder zieht wahlweise sein gesamtes visuelles Können aus dem Hut. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch interessant, wie Forster den 22. Bond-Film, James Bond 007 - The Property Of A Lady, anpacken wird.
Im Falle vom „Drachenläufer“ hat er sich eng an das Buch gehalten. Manche Szenen wirken wie exakt aus dem Roman übernommen, so als wäre die Vorlage gleichzeitig das Drehbuch. Der für das Script verantwortliche David Benioff (25 Stunden, Troja), der mit Forster schon bei „Stay“ zusammengearbeitet hat, bringt das Beste der Romanvorlage zum Vorschein. Wie z.B. bei Fernando Meirelles Der ewige Gärtner geht es auch hier um eine besondere Beziehung, die erst in Abwesenheit des Anderen zu neuer Stärke heranreift. Nur gelegentlich nimmt Forster kleinere, der Dramaturgie zu gute kommende Änderungen vor. Trotzdem agiert der Regisseur nicht als bloßes „Medium“ der Vorlage, sondern setzt auch kreative Akzente. Optisch fallen zuerst die Drachenszenen ins Auge, die einen ganz eigenen Zauber haben. Aber auch die Bilder von Kabul vor dem Krieg sind von besonderer Ästhetik und stellen Afghanistan in einem wunderschönen Licht dar. Zumindest anfangs. Als Amir nach Kabul zurückkehrt, um seine Schuld zu tilgen, ist das Land ein anderes. Einer der erschütternsten Momente des Films spielt in einem Fußballstation, in dem Amir Zeuge einer öffentlichen Hinrichtung wird. An dieser Stadion-Szene und beim aberwitzigen „Showdown“, als Amir einen alten Bekannten trifft, wird das Grauenhafte, das Absurde der Situation in Afghanistan besonders deutlich – diesen speziellen Ton hat der Film übrigens mit der Comicverfilmung Persepolis gemein.
„I dream that my son will grow up to be a good person, a free person. I dream that someday you will return to revisit the land of our childhood. I dream that flowers will bloom in the streets again... and kites will fly in the skies!” (Hassan)
Die Herrschaft der Taliban endete erst 2001 durch die internationale, von den USA geleitete Intervention, doch vor allem außerhalb Kabuls haben militante Gruppen immer noch großen Einfluss. Aufgrund der politischen Situation mussten die Dreharbeiten nach China verlegt werden. Die Afghanistan-Szenen wurden in Kashgar, Tashgarkan und Xinjiang gefilmt. Man fühlt sich an Deepa Methas Water erinnert. Dort waren es fundamentalistische Hindu-Gruppen, welche Regisseurin und Darsteller bedrohten. Spiegel Online zufolge sehen sich auch die afghanischen Jungschauspieler, die an der Schlüsselszene von „Drachenläufer“ mitgewirkt haben, der Bedrohung durch fundamentalistische Islamisten ausgesetzt. Es ist sehr schade, dass die Schauspieler durch ihre Arbeit in Gefahr geraten und zum Teil sogar aus ihrer Heimat fliehen mussten. Denn an ihren Fähigkeiten besteht kein Zweifel, sie agieren durchweg sehr glaubhaft. Besonders Zekeria Ebrahimi als junger Amir und Ahmad Khan Mahmidzada als Hassan überzeugen. Aber auch Homayoun Ershadi („Portrait of a Lady Far Away”) macht als Amirs Vater einen sehr guten Eindruck.
Aller politischer Schatten zum Trotz und so erstaunlich es in diesem Kontext erscheint: Marc Forster gibt einem Land seine Schönheit – ja, seine Würde – wieder. Trotz der deprimierenden Bilder des postapokalyptischen Afghanistans schimmert immer diese sagenhafte Schönheit durch, so dass man neugierig wird auf dieses Land, seine Geschichte und Kultur. „Drachenläufer“ verbindet Historisches mit aktuellem Zeitgeschehen, ist politisches Statement und zugleich Lehrstück über Schuld und Vergebung. Doch vor allem ist „Drachenläufer“ eines – die wunderbare Geschichte einer ganz besonderen Freundschaft. „For you, a thousand times over…”