„Die andere Seite des Mondes“ heißt das Drama des Allroundtalents Robert Lepage, der auf der Berlinale 2004 den Preis der Filmkritik gewann. Nun kommt er mit zwei Jahren Verspätung in die deutschen Kinos. Schon der Titel lässt vermuten, dass ein rätselhaftes Element durchaus einkalkuliert ist. Die andere, die versteckte Seite des Mondes kann dabei zum einen eine astronomische Bedeutung haben, aber zum anderen auch – und das ist die wahrscheinlichere Variante – als Metapher für etwas Geheimnisvolles und Verborgenes verwendet werden. Hierbei schafft es Lepage den Zuschauer zu überraschen, denn er versteht es, beide Möglichkeiten aufs Originellste zu verbinden. Anschnallen muss sich der Zuschauer aber nicht, die Reise ins innere Universum des Protagonisten verläuft doch recht gemächlich.
Der Film, dem im Jahr 2000 Lepages Bühnenversion vorausging, handelt von Philippe und seinem Bruder André (wie beim Theaterstück beide gespielt von Robert Lepage). Philippe, der Intellektuelle ist ein Träumer, Bruder Andé sein weltliches Gegenstück. Letzterer verdient sein Geld als Wetteransager in Quebec. Die Mutter der beiden, ist vor kurzem gestorben, sie war an einem schweren Nierenleiden erkrankt. Nun sind Philippe und André, die seit ihrer Kindheit nicht so gut miteinander können, gezwungen Kontakt aufzunehmen. Eine Kollision der verschiedenen Lebensentwürfe steht bevor. Im Zentrum der Geschichte steht allerdings Philippe. Dieser ist fasziniert von dem russischen Erfinder Konstantin Tsiolkovskij. Schon lange werkelt er an seiner Doktorarbeit, die davon handelt, dass Narzissmus stets die Hauptantriebskraft für menschliche Errungenschaften war. Der Zuschauer darf an Philippes Leben teilhaben, an seinem Nebenjob in einem Callcenter, dem Verwalten des müttlerlichen Nachlasses und vor allem den Reisen durch seine Fantasiewelten – einer Mischung aus Wunschträumen und Erinnerungsbildern. Diese Imaginationen sind dabei Stärke und Schwäche des Films zugleich. Schwach sind sie dann, wenn sie willkürlich wirken (ohne dass sie es unbedingt sein müssen); stark sind sie durch die fast durchweg gelungenen Montagen von Visual-Effects-Team Christian Irles, Jonathan Legris und Yvan Pinard sowie Kameramann Ronald Plante. Durch die Musik von Benoît Jutras gewinnt das Ganze noch mal an Atmosphäre. In Einzelszenen bemerkt man hier Lepages („Possible Worlds“) großartiges Gespür für Stimmungen. Denn wenn Philippe anfängt zu träumen, ist man noch am ehesten geneigt sich verzaubern zu lassen.
Leider dürfte es Lepage mit seiner Beinahe-One-Man-Show nicht schaffen die Mehrheit des Publikums über die gesamte Spieldauer zu fesseln. Zwar spielt er seine beiden Rollen sehr gut – Philippe und André wirken tatsächlich wie unterschiedliche Personen – aber nachdem man anfangs noch ganz dabei und gespannt war, auf das Portrait einer Person und die fantastischen Reise in ihr Innerstes, fällt es im weiteren Verlauf zunehmend schwerer, mit der gleichen Beteiligung zu folgen. Mehr und mehr merkt man, dass das Dargebotene in vielen Aspekten einfach zu persönlich und damit hermetisch ausfällt. Aber so ist das halt mit der anderen Seite des Mondes: Man sieht sie nicht. Sicher, auf einer oberflächlichen Ebene wird der eine oder andere den Film bestimmt genießen, ein tieferes Verständnis der Geschichte dürfte den meisten jedoch verwährt bleiben. Zwar gibt es zwischen den Elementen des Films (Raumfahrt, Tod, Kindheit, …) durchaus assoziative Verknüpfungen – allein der Sinn dieser Konstellationen bleibt verborgen. Man kommt nicht umhin zu bemerken, dass der Konflikt und der Weltlauf zum Mond zwischen Amerikanern und Sowjets hier auf einen Bruderkonflikt hinunter gebrochen wird. Den Grund dafür zu finden, ist allerdings Sache des Zuschauers.
Daneben, dass der Film zu oft unbestimmt bleibt und sich schwer damit tut, den Funken überschlagen zu lassen, wird der Gesamteindruck noch durch einige Details getrübt, die zwar nicht weiter ins Gewicht fallen, aber trotzdem erwähnt werden sollen: Wie kann das Wasser des Aquariums in Philippes Wohnung so schnell einfrieren, er ist doch nur wenige Tage fort? Und was hat das Visual-Effects-Team am Filmende geritten, Philippe so mies hinfort schweben zu lassen? Über 100 Minuten haben sie doch trotz geringer finanzieller Mittel solide Arbeit geleistet. Vermutlich wird der Film gemischte Reaktionen hervorrufen, wenn er denn endlich in die deutschen Kinos kommt. Insgesamt ist „Die andere Seite des Mondes“ trotz der Mängel aber bemerkenswertes Stück Kino, das fernab vom Mainstream eine melancholische aber auch warmherzige Geschichte der etwas anderen Art erzählt. Wer es ruhig mag, wer auf Fragen nicht unbedingt Antworten braucht und wer außerdem dem Vagen vor dem Wahren den Vorzug gibt, der kann und sollte dem Film eine Chance geben.