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    Das kleine Zimmer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Das kleine Zimmer
    Von Jan Görner

    Die kleine Schweiz wurde immerhin schon zwei Mal mit dem Oscar für den Besten nicht-englischsprachigen Film ausgezeichnet: 1984 gewann das Schachdrama „Duell ohne Gnade" den begehrten Preis, und 1990 wurde „Reise der Hoffnung" geehrt, die Geschichte einer kurdischen Familie, die versucht, illegal in die Schweiz einzureisen. Für 2010 schickte das Alpenland das Drama „Das kleine Zimmer" ins Rennen, aber die beeindruckende Arbeit des Regie-Duos Stéphanie Chuat und Véronique Reymond schaffte es bedauerlicherweise nicht in die Endauswahl, obwohl zumindest eine Nominierung verdient gewesen wäre. Denn die Regisseurinnen verbinden in dem einfühlsamen Film über Verlust, Verdrängung und Verantwortung die Darstellung eindrucksvoll ausgestalteter Einzelschicksale mit der gesellschaftlich relevanten Frage nach dem Verhältnis zwischen den Generationen.

    Edmond (Michel Bouquet) ist ein sturer einsamer Griesgram. Nach dem Tod seiner Frau vor vielen Jahren ist sein einziger Sohn Jacques (Joël Delsaut) Edmonds letzte Verbindung zur Außenwelt. Doch auch diese wird bald abreißen, denn Jacques zieht es in die USA. Ein Umzug in einen Altenstift kommt für Edmond allerdings nicht in Frage, nichts macht dem alten Mann so sehr Angst wie die Aussicht, bevormundet zu werden. Auch die Hilfe der Hauspflegerin Rose (Florence Loiret-Caille) lehnt Edmond ab. Aber sie lässt nicht locker, schließlich teilt sie trotz aller offensichtlichen Unterschiede ein ganz ähnliches Schicksal. Als Edmond eines Tages schwer stürzt, muss er sich endlich auf die Hilfe seiner Pflegerin einlassen.

    Zu Beginn von „Das kleine Zimmer" gibt es eine Szene, in der Roses Ehemann Marc (Eric Caravaca) im titelgebenden Raum eine Glühlampe auswechselt. Als er die Birne aus der Fassung schraubt, kann ihm seine Frau nur entsetzt zusehen: Das kleine Zimmer mit seinen blauen Wänden und dem Kinderbettchen darf nicht angerührt werden. „Hier wird nicht gespielt" herrscht Rose später im Film ihre kleinen Neffen an. Rose hat ihrem totgeborenen Baby mit dem verwaisten Kinderzimmer eine Art Mausoleum errichtet, sie will die Erinnerung an das Kind auf keinen Fall verlieren und begreift nicht, dass sie so nur das schreckliche Erlebnis in sich am Leben erhält. Einfühlsam blicken die Regisseurinnen hinter die Fassaden, sie zeigen ohne Kitsch und Rührseligkeit die unverarbeiteten Traumata ihrer Figuren auf.

    Auch hinter Edmonds schroffem Auftreten verbergen sich ganz widersprüchliche Gefühle, so hat er seine Überzeugung, als Ehemann und Vater versagt zu haben, aus falschem Stolz nie ausgesprochen. Der hierin angedeutete individuelle Generationenkonflikt wird auch auf einer ganz allgemeinen und grundsätzlichen Ebene zum Thema, denn das Regiegespann spürt mit Edmonds Geschichte auch den Verwerfungen in einer alternden Gesellschaft nach. Chuat und Reymond fragen, ob der Verlust der körperlichen Unabhängigkeit auch unsere Mündigkeit als Menschen aufheben kann. Sind alte Menschen eine womöglich unzumutbare Last für die folgenden Generationen? Eindeutige Antworten vermeiden die Filmemacherinnen und machen ihren Standpunkt dadurch umso deutlicher: Ihr Edmond ist kein gutmütiger alter Onkel und es fällt durchaus schwer, ihn zu mögen. Aber trotz aller Miesepetrigkeit verliert Edmond nie seine Würde.

    Dass Edmond nie zur Karikatur eines alten Kauzes verkommt, ist nicht nur dem stets mitfühlenden Zugang der Filmemacherinnen zu verdanken, sondern auch der differenzierten Leistung des Hauptdarstellers Michel Bouquet. Der Bühnenveteran, der schon für Größen wie Claude Chabrol („Die untreue Frau") und François Truffaut („Die Braut trug schwarz") vor der Kamera stand, nähert sich seiner Figur auf sehr persönliche Weise, er spielt die Wirkung der kleinen Bösartigkeiten Edmonds aus und verleiht ihm einen fast kindlichen Trotz, etwa wenn der seinem Sohn ohne Augenzwinkern verspricht, im Monat August zu sterben, damit der Sprössling wegen der Sommerferien auch zur Beerdigung anreisen kann. In dieser klaren Akzentuierung lässt Bouquet zugleich die tiefsitzenden Frustrationen der Figur spüren.

    Auch Florence Loiret-Caille („Erzähl mir was vom Regen") als Rose zeigt eine hervorragende Leistung, die Darsteller werden zudem hervorragend von der Regie unterstützt. Es ist zu spüren, dass Chuat und Reymond selber Schauspielerfahrung besitzen und so finden sie das richtige Maß von Nähe, das den Zuschauer vom reinen Betrachter zum emotional Beteiligten werden lässt. In vielen Szenen gehen sie mit der Kamera ganz eng mit den Figuren auf Tuchfühlung, in diesen Momenten wird „Das kleine Zimmer" zur regelrechten Seelenerkundung. Aber trotz aller düsteren Themen und ausgefeilten Symbolik wird der Film nicht zu einer bierernsten Angelegenheit, denn im abwechslungsreichen Drehbuch steckt immer wieder auch leichtherziger Humor. Einer dieser überraschenden komischen Schlenker gilt der besonderen Beziehung zwischen dem Bollywood-Kino und der Schweiz, die ja bekanntlich immer wieder als Drehort für indische Produktionen genutzt wird.

    Fazit: Großes Kino aus einem kleinen Land: Das Spielfilmdebüt von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond ist ein thematisch vielschichtiges und nuanciert gespieltes Drama.

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